Knast mit Kaviar – wie geht das?

Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

Die kriminelle Welt

Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

Die Wirtschaft

Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

Häftling mit Status einer Milchkuh

Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

Die Politik

Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.


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