Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

Wladimir Putin hat die „Entnazifizierung“ als eines seiner Ziele bei dem Angriffskrieg auf die Ukraine genannt. Er bezeichnet die politische und kulturelle Elite des Nachbarlandes als „Nazis“, so auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, der Jude ist und der einer Familie von Holocaust-Überlebenden entstammt. Seit Jahren – vor allem seit dem Beginn der Maidan-Revolution Ende 2013, der Annexion der Krim und dem Krieg im Osten der Ukraine – bedienen der Kreml und russische Staatsmedien das Bild, die Ukraine sei von einer „faschistischen Junta“ gekapert worden und müsse von dieser befreit werden. Gleichzeitig baut der Kreml seit Jahren verstärkt Beziehungen zu rechtsextremen Parteien, Politikern und Aktivisten in Europa auf, um sie für seine Belange einzuspannen.

Die Rhetorik des Kreml zieht dabei bewusst eine Verbindung zum Vermächtnis der Sowjetunion und ihrem Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg 1945. Allerdings seien viele der alten Losungen heute nicht mehr als hohle Floskeln, meint etwa der russische Intellektuelle Lew Rubinstein: „Wörter der Nachkriegszeit wie ,Nazismus‘ und ,Faschismus‘ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.“

Putins verkündeter Plan einer „Entnazifizierung“ der Ukraine fußt auf einem kolossalen Unverständnis der ukrainischen Gesellschaft, meint Artyom Shraibman. Auf seinem Telegram-Kanal erklärt der belarussische Politikanalyst, warum dieser Plan von vornherein realitätsfern war – mit nun immer fataleren Folgen.

Entschuldigt, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Die Evakuierung aus der Ukraine und Fragen der Grundversorgung am neuen, sicheren Ort haben mir alle Zeit und Energie genommen. Einzig ein Interview für Echo Moskwy anlässlich seiner Schließung habe ich geschafft zu geben. Doch sie haben das Video auch von Youtube gelöscht, darum wiederhole ich meinen Grundgedanken hier. 

Putins Hauptfehler ist nicht, dass er die Stärke seiner Armee überschätzt und die des ukrainischen Widerstands und das Ausmaß der Sanktionen unterschätzt hat. Auch nicht, dass er an den propagandistischen Quatsch über das ukrainische Brudervolk glaubt, die auch Russen seien. Oder an den Quatsch mit der volksfeindlichen Nazi-Junta (mit einem Juden an der Spitze), von der sich diese Auch-Russen befreien wollen und dabei nur auf Hilfe warten.

Es gibt ein sehr viel ernsthafteres Problem in der Weltanschauung solcher Leute wie Putin. Fast alle, die aus dieser sowjetischen militär-tschekistischen Kultur kommen, teilen diese Weltanschauung. Das sind die, die in den 1990ern in Russland „Rot-Braune“ und später dann „Watniki“ genannt wurden. Auch jüngere Silowiki haben diese Leerstelle im Bewusstsein und auch ältere Autokraten wie Putin oder Lukaschenko.

Keine Vorstellung von einer Gesellschaft, die sich selbst helfen kann

Diese Leute können nicht begreifen, dass irgendwelche Gruppen von Menschen in der Lage sind, horizontal zu interagieren und ohne Oberhirten zu leben. Für sie existiert nur die Vertikale, nur die Kaserne. Nur die Eliten und eine darunter versammelte Hammelherde. Sie sind es gewohnt, in einer solchen Gesellschaft zu leben und über sie zu bestimmen – also müssen ihrer Ansicht nach wohl alle Gesellschaften so sein. 

Hätte dieser Mythos irgendetwas mit der Realität zu tun, so wäre der Plan, Kiew schnell zu erobern, den ukrainischen Staat zu enthaupten und dem neuen Regime eine Kapitulation aufzuzwingen – verbunden mit einer „Entnazifizierung“ und weiterer Unterwerfung – völlig machbar.

Die Ukraine ist keine Kaserne. Man kann sie nicht enthaupten, das ist ein völlig anderer Organismus

Aber selbst wenn man die für alle Welt offensichtliche Ausbremsung der russischen Kriegsmaschinerie außer Acht lässt, die seltsamen ungedeckten Landeoperationen, das Versagen bei der Übernahme der Kontrolle über den Luftraum, das Versagen in der Versorgung und Logistik: Selbst dann ist der Plan apriori nicht machbar. Denn die Ukraine ist keine Kaserne. Man kann sie nicht enthaupten, das ist ein völlig anderer Organismus. 

Nehmen wir einmal an, dass die militärische Stärke ausreicht, um den Widerstand der ukrainischen Armee zu brechen – was derzeit alles andere als offensichtlich ist, wenn man die sinkende Kampfmoral der Angreifer und die erstarkende Wut der Verteidiger bedenkt. Aber stellen wir uns das einmal vor.

Was soll mit der Partisanen-Bewegung geschehen? Sollen hunderttausende Soldaten eines Besatzungs-Korps einmarschieren? Wo will man die hernehmen, wenn 90 Prozent der ins Land einmarschierten Reservetruppen es nicht schaffen, die großen Städte einzunehmen? Soll es eine Blockade der Städte und damit dort eine humanitäre Katastrophe geben? Wenn es bereits jetzt – hier wie dort – zu freiwilliger Kriegsgefangenschaft kommt – wie will man sich dann vor Fahnenflucht schützen in einer Armee, die sich selbst im Klaren darüber ist, dass sie für eine vollumfängliche Vernichtungsoperation gekommen ist und nicht für eine „chirurgisch-exakte Demilitarisierung“? 

Der Kreml hat keine Exit-Strategie

Wer wird sich nach einem blutigen Gemetzel, das ein solches Szenario erforderlich macht, einem Besatzer unterwerfen? Wie nachhaltig werden Vereinbarungen mit den Marionetten, die man an Selenskys Stelle platziert? Wie viele Tage werden die nach Abzug des Besatzungs-Korps überleben? Wo soll die Bürokratie herkommen, um ein besetztes Land mit 40 Millionen Menschen zu verwalten, die dem Besatzer gegenüber maximal feindlich gesinnt sind? Woher soll das Geld dafür kommen bei eingefrorenen Reserven und Sanktionen à la Nordkorea? Wie und wer überhaupt kann die Besatzung organisieren, wenn momentan schon die Organisation des Einmarsches nicht so richtig klappt? 

Dass der Kreml in dieser Situation keine Exit-Strategie hat, ist heute das globale Hauptproblem – natürlich nach der humanitären Katastrophe in der Ukraine. Selbst wenn die gesamte russische Armeeführung begreift, welche Aufgabe da vor ihnen steht – ein Rückzug würde den politischen Tod Putins bedeuten. Und womöglich nicht nur den politischen.

Mit dem Rücken zur Wand und als Gefangener seiner mystisch-paranoiden Einstellungen könnte Putin jeden Befehl geben. Das Schicksal der Welt könnte an einem bestimmten Punkt in den Händen der obersten Militärführer Russlands liegen, denen dann obliegt, den Befehl auszuführen oder Mensch zu bleiben

Auf dem Weg in die Katastrophe des russischen Staates liegen leider noch sehr viele unschuldige Opfer und diesen Fakt kann ich psychologisch immer noch nicht akzeptieren. Allem Anschein nach folgt nach diesem schrecklichen Preis wirklich so etwas wie eine Entnazifizierung. Doch nicht für die Ukraine.

 

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