Was können wir denn dafür?

Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

 

Wo beginnt Putin? 
Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

1. Operation „Nachfolger“

Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
(Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

4. Die Zerschlagung von NTW

Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

All das gab es von Anfang an

Nichts Neues. Kein bisschen. 
Verachtung der Demokratie;
Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
Hass auf die Meinungsfreiheit.
Erstens, zweitens, drittens, viertens.
All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
(Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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