Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

Am 24. Juni hat der Kreml die wohl schwersten 24 Stunden seiner jüngsten Geschichte erlebt. Plötzlich schien ein großes Blutbad vor Moskau oder gar ein Bürgerkrieg im Land möglich. Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin hatte am frühen Morgen des 24. Juni das Militärhauptquartier in Rostow am Don unter Kontrolle gebracht, seine Miltärkolonne konnte im Laufe des Tages nahezu ungehindert mehrere hundert Kilometer Richtung Hauptstadt vorrücken. Putin sprach von Verrat und kündigte „unausweichliche Strafen“ für die Organisatoren und Beteiligten des bewaffneten Aufstandes an.

Dem vorausgegangen war ein Konflikt zwischen der Wagner-Truppe und dem russischen Verteidigungsministerium, der sich seit Monaten zuspitzte. Während der Kämpfe um die ostukrainische Stadt Bachmut beschuldigte Prigoshin mehrfach öffentlichkeitswirksam Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow und beklagte, dass sie den Wagner-Truppen absichtlich Munition vorenthalten würden. Am 10. Juni ordnete Schoigu an, dass alle „Freiwilligenverbände“ bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen müssen, was Prigoshin – wohl um seine Söldner-Firma fürchtend – entschieden ablehnte. Am Abend des 23. Juni behauptete Prigoshin schließlich, die russische Armee habe Wagner-Camps im Hinterland beschossen. Dabei seien zahlreiche Kämpfer ums Leben gekommen. Für diese (unbestätigten) Vorfälle kündigt Prigoshin eine Antwort an.

Der von ihm als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnete Marsch auf Moskau endet keine 24 Stunden später damit, dass Prigoshin seine Militärkolonne zurückzieht und in Rostow unter dem Jubel der Schaulustigen in einen SUV steigt, der ihn nach Belarus bringen soll. Er hat offiziell unter Vermittlung von Alexander Lukaschenko eine Einigung mit dem Kreml erzielen können, die ihm Straffreiheit und eine Ausreise gewährt.

Nach diesen turbulenten Ereignissen fragen viele: Was war das eigentlich? Ein versuchter Putsch? Alles eine große Inszenierung (mit mehreren abgeschossenen Helikoptern, mindestens zehn Toten und einem massiven Imageschaden für Putins Machtvertikale)? Tatjana Stanowaja sieht darin eher einen Akt der Verzweiflung Prigoshins, dessen Flucht nach vorne womöglich eine Spur zu groß geraten ist. Die Politikwissenschaftlerin ist Senior Fellow beim Carnegie Russia Eurasia Center und hat 2018 das Analysezentrum R.Politik gegründet. dekoder hat ihre Einschätzung auf Twitter aus dem Englischen übersetzt.

Unten nun eine kurze Beschreibung von Prigoshins Meuterei und den Faktoren, die ihren Ausgang mitbestimmten. Wir Beobachter haben zunächst wichtige Details verpasst – aufgrund einer mageren Informationslage und Zeitmangels für eine tiefgehende Analyse. Hier nun die Sichtweise, die derzeit am plausibelsten erscheint.

Prigoshins Aufstand war kein Greifen nach Macht und kein Versuch, den Kreml zu übernehmen. Es war ein Akt der Verzweiflung – Prigoshin wurde aus der Ukraine gedrängt und war somit unfähig, Wagner so aufrechtzuerhalten wie vorher, während der Staatsapparat sich gleichzeitig gegen ihn stellte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ignorierte Putin ihn und unterstützte öffentlich seine gefährlichsten Widersacher. 

Prigoshins Ziel war es, Putins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und eine Diskussion über die Bedingungen zu erzwingen, wie seine Aktivitäten aufrechterhalten werden könnten: eine klar definierte Rolle, Sicherheitsgarantien und Finanzierung. Das waren keine Forderungen, die auf einen Staatsstreich abzielten, es war Prigoshins verzweifelte Offerte, um sein Unternehmen zu retten, in der Hoffnung, dass seine Verdienste bei der Eroberung Bachmuts (dafür brauchte er sie!) berücksichtigt würden und seine Anliegen bei Putin ernsthafte Aufmerksamkeit erregen würden. Jetzt sieht es so aus, dass diese Verdienste Prigoshin halfen, mit dem Leben davonzukommen, aber ohne eine politische Zukunft in Russland (zumindest solange Putin an der Macht ist).

Prigoshin wurde von Putins Reaktion überrascht und war nicht vorbereitet auf seine plötzliche Rolle als Revolutionär. Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass Wagner Moskau erreichen würde; dort hätte seine einzige Option darin bestanden, den Kreml zu stürmen – eine Aktion, die zweifelsohne ihn und seine Kämpfer ausgelöscht hätte.

Die Teile der [politischen] Elite, die dazu fähig waren, wandten sich an Prigoshin, doch zu kapitulieren. Das verstärkte wohl bei ihm das Gefühl des drohenden Untergangs. Ich denke jedoch nicht, dass es Verhandlungen auf oberster Ebene gab. Lukaschenko unterbreitete Prigoshin ein von Putin gebilligtes Rückzugsangebot unter der Bedingung, dass Prigoshin Russland verlässt und Wagner aufgelöst wird.

Meines Erachtens war Prigoshin nicht in der Position, um Forderungen zu stellen (wie den Rücktritt von Shoigu oder Gerassimow – den viele Beobachter heute erwarten. Wenn das geschieht, ist der Grund dafür ein anderer.) Nach Putins Ansprache am Morgen des 24. Juni war Prigoshins vorrangiges Ziel, eine Möglichkeit zum Ausstieg zu finden. Die Situation hätte unausweichlich in den folgenden Stunden zu Toten geführt. Möglich ist, dass Putin Prigoshin Sicherheit versprach, unter der Bedingung, dass er ruhig in Belarus verweilt.

Ich bleibe bei meiner Aussage, dass Putin und dem Staat ein schwerer Schlag versetzt wurde (der erhebliche Nachwirkungen auf das Regime haben wird). Doch ich möchte betonen, dass das Image für Putin immer zweitrangig war. Abgesehen von Äußerlichkeiten hat Putin das Wagner- und Prigoshin-Problem tatsächlich gelöst, indem er Ersteres aufgelöst und Letzteren verjagt hat. Die Situation wäre viel schlimmer gewesen, wenn sie in einem Blutbad an Moskaus Stadtrand geendet hätte. 

Und: Nein, Putin braucht weder Wagner noch Prigoshin. Er kann es mit eigenen Kräften schaffen. Davon ist er nun mit Sicherheit überzeugt. Viele weitere Details werde ich morgen Abend [Montag] in meinem Bulletin veröffentlichen.

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