Auf dem Gipfel in Warschau am 8. und 9. Juli werden die NATO-Staaten vor allem auch die Beziehung zu Russland in Augenschein nehmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel machte in ihrer Regierungserklärung am Tag vor dem Treffen Moskau für den Vertrauensverlust verantwortlich. Die russische Presse hingegen diskutiert im Hinblick auf den Gipfel nicht nur die Aufnahme zahlreicher osteuropäischer Staaten in die Allianz in den vergangenen Jahren, sondern auch die mögliche NATO-Mitgliedschaft Finnlands.
Die Exilpresse im Baltikum wiederum beschäftigt vor allem die Erwartung der osteuropäischen Länder an das Bündnis.
Kommersant: NATO in der Krise
Nach dem Außenpolitik-Experten Fjodor Lukjanow, Chefredakteur des Journals Russland in der globalen Politik, haben Russland vor allem zwei Entwicklungen der NATO beunruhigt: die Aufnahme neuer Mitgliedsländer im Osten Europas und die wachsende militärische Aktivität außerhalb des NATO-Gebiets. Die neue-alte Aufgabe der Eindämmung Russlands, so meint er, sollte aber nicht über eine andauernde Krise der Allianz hinwegtäuschen:
[bilingbox]Die NATO ist – trotz der lautstarken Verkündigungen von Einigkeit und Entschlossenheit – kein monolithischer Block. Europas Norden, Süden, Osten und Westen sind sich uneins in den unterschiedlichsten Fragen. Die Türkei ist sowieso ein Fall für sich. Die Balance zwischen der Alten und der Neuen Welt ist labil, in den USA ist man zunehmend genervt vom Unwillen der Europäer, für die eigene Sicherheit tief genug in den Geldbeutel zu greifen. Die völlige Ahnungslosigkeit darüber, was man im Nahen Osten machen soll, sorgt für zusätzliche Unstimmigkeit in der Allianz. Hinzu kommt das allgemeine Gefühl, dass der atlantische Raum im Vergleich zum pazifischen immer mehr zur Peripherie wird. Und diesen ganzen Blumenstrauß versucht man mit dem Bändchen „aggressives Russland“ zusammenzuhalten, damit er schön aussieht und nicht auseinanderfällt. […]
Die NATO ist in einer Krise, die nicht durch innere Differenzen hervorgerufen wurde, sondern durch eine Struktur, die für das 20. Jahrhundert konzipiert ist und den Umständen des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert nicht entspricht.~~~НАТО, несмотря на бравурные заявления о единстве и решимости, не монолитно. Север, юг, восток и запад Европы находятся друг с другом в нелинейных и противоречивых отношениях по самым разным вопросам. Турция — вообще отдельный случай. Баланс между Старым и Новым Светом неустойчив, в США растет раздражение нежеланием европейцев как следует раскошелиться на собственную безопасность. Полное непонимание, что делать на Ближнем Востоке, вносит в стройность рядов альянса дополнительный разнобой. К этому стоит добавить общее ощущение того, что атлантическое пространство становится все более периферийным по сравнению с тихоокеанским. И весь этот букет пытаются связать ленточкой с надписью "агрессивная Россия", дабы он стоял красиво и не распадался. […]
НАТО в кризисе, который вызван не отдельными разногласиями внутри, а несоответствием структуры, спроектированной для ХХ столетия, обстоятельствам второго десятилетия XXI века. И решить эту проблему воссозданием "угрозы из Москвы" не получится.[/bilingbox]
Vesti: Vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg
Vesti bringt eine Replik von Alexander Priwalow auf einen Gastbeitrag von Wolfgang Ischinger im Spiegel. Der ehemalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes legt darin u. a. nahe, trotz möglicher „negativer Reaktionen in Moskau auf den Gipfel” weiter den Dialog zu suchen, etwa einen NATO-Vertreter für Gespräche nach Russland zu schicken. Von solchen Vermittlungsversuchen hält Priwalow jedoch nicht viel:
[bilingbox]Dem Autor ist selbst klar, dass der Westen absolut nicht gewillt ist, seinen friedliebenden Ratschlägen zu folgen. […] Warum wohl sind sich die NATO-Leute der „negativen Reaktionen“ seitens Moskaus so sicher? Nämlich deswegen, weil sie das Ziel des Warschauer Gipfels gut kennen. […]
Es wird zunächst so aussehen, dass neue NATO-Truppen nahe der russischen Grenzen aufgestellt werden: gut weitere tausend Soldaten im Baltikum und in Polen. Man wird die für die postsowjetische Zeit höchsten Aufstockungen im Verteidigungsbudget der NATO-Staaten beschließen. Man wird (noch ganz vorsichtig) Gespräche über den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands vorschlagen.
Mit einem Wort: Man wird bewusst einen bedeutenden Schritt hin zu einer Verschärfung der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland machen.
Von der Auflösung des Warschauer Pakts bis zum Warschauer NATO-Gipfel sind 25 Jahre vergangen und fast schließt sich der Kreis: vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg.~~~Aвтор и сам понимает, что следовать его миролюбивым советам Запад отнюдь не намерен […]. Почему же натовцы так уверены в „предсказуемо негативной" реакции Москвы? А потому, что хорошо знают цель Варшавского саммита. […]
Выглядеть это на первых порах будет так — будут размещены новые войска НАТО вблизи российских границ: по дополнительной тысяче военных в прибалтийских странах и в Польше. Будет принят план крупнейшего за постсоветский период увеличения расходов стран-членов НАТО на оборону. Будут (пока весьма осторожно) продолжены разговоры о вступлении в НАТО Швеции и Финляндии. Одним словом, будет сознательно сделан заметный шаг к усилению конфронтации Запада и России.
От роспуска Варшавского договора до Варшавского саммита НАТО – двадцать пять лет и почти полный круг, пройденный за это время. Круг от холодной войны к холодной войне.[/bilingbox]
Facebook, Lilija Schewzowa: Russland hat NATO provoziert
Die renommierte Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa erwartet vom Treffen in Warschau keine Wende. Auf ihrem Facebook-Account schreibt sie, die Aufgabe des NATO-Gipfels bestehe darin, dass alle Mitglieder an einem Strang ziehen und dies auch demonstrieren. Sie müssten sich darüber im Klaren werden, wie man das Verhältnis zwischen Dialog und Abschreckung ausbalancieren kann. Russland habe die Allianz herausgefordert – und diese Herausforderung werde die Allianz konsolidieren. Dabei spart sie nicht mit Kritik am russischen Vorgehen:
[bilingbox]Warum war das nötig, dieses Geschöpf [die NATO – dek] zu wecken und es am Schwanz zu ziehen? Um zu verstehen, dass es sich noch bewegen kann? Oder um eine Antwort auf unsere nationale Frage zu bekommen: „Hast du Respekt vor mir?“ Oder wollte man „Wer blinzelt zuerst“ spielen? Oder versuchen, das Vakuum auf der Weltbühne zu füllen, solange der Westen kriselt? Man könnte sie ja noch mit den Iskander-Raketen in Kaliningrad reizen– das wird ein Vergnügen!
Wie auch immer: Moskau hat einen strategischen Fehler gemacht, der Russland dazu treibt, den sowjetischen Zusammenbruch zu wiederholen. Ein Versuch, den Koloss zu foppen, der 940 Milliarden Dollar für Kriegs-Spielzeug in der Tasche hat, ist selbstmörderisch.
Im Übrigen hat Putin bei seinem Treffen mit dem Präsidenten Finnlands Niinistö gesagt: „Wir werden versuchen, auf dem Gipfel in Brüssel einen Dialog mit der NATO anzufangen.“ Auf Initiative der russischen Seite hat ein Gespräch zwischen Putin und Obama stattgefunden. Vor dem NATO-Gipfel in Warschau, übrigens. Das bedeutet, im Kreml versteht man doch, dass es Zeit ist, miteinander zu sprechen …~~~Спрашивается: зачем было будить это создание и дергать его за хвост? Чтобы понять, может ли оно еще двигаться? Или получить ответ на наш национальный вопрос: «Ты меня уважаешь?» Или захотелось поиграть в «Кто моргнет первым?» Или попытаться заполнить вакуум на мировой сцене, пока Запад вошел в кризис? А ведь можно еще их пощекотать «Искандерами» в Калининграде-вот удовольствие то будет!
В любом случае Москва сделала стратегическую ошибку, которая толкает Россию к повторению советского обвала. Пытаться дразнить махину, у которой в кармане 940 млрд долл на военные игрушки, самоубийственно.
Впрочем, Путин на встрече с президентом Финляндии Ниинисте сказал: «Попробуем начать диалог с НАТО на саммите в Брюсселе». По инициативе российской стороны состоялся разговор Путина с Обамой. Кстати, перед саммитом НАТО в Варшаве. Значит, в Кремле все же понимают, что пришла пора разговаривать…[/bilingbox]
Spektr: Nichts als Worte
Das russische Exilmedium in Lettland Spektr thematisiert die Erwartungen der osteuropäischen Länder:
[bilingbox]Sie [die osteuropäischen Staaten – dek] erwarten von dem Treffen in Polen demonstrative Einigkeit und Entschlossenheit gegenüber dem Kreml. Charakteristisch dafür ist der Titel eines Artikels in der Financial Times: „Der NATO-Gipfel in Warschau ist ein Test, den der Westen bestehen muss“.
Es ist jedoch kaum möglich, die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen noch weiter zu verschlechtern. Kaum vorstellbar, dass der scharfen Rhetorik ernsthafte politische Schritte folgen, dass etwa ein Aktionsplan zur Mitgliedschaft postsowjetischer Republiken angestoßen wird. Zum Ausgleich für deren Regierungen kann man Russland im Abschlussdokument erneut auf die Liste der größten Sicherheitsbedrohungen setzen. Allerdings: Mit dem Konstatieren von Fakten allein beeindruckt man heute keinen mehr. ~~~От встречи в Польше они ждут демонстрацию единства и решимости в контактах с Кремлем. Характерным является заголовок редакционной статьи в Financial Times – «Саммит НАТО в Варшаве – экзамен, который Запад обязан сдать».
Впрочем, это едва ли способно дополнительно ухудшить и без того тяжелое положение в российско-западных отношениях. Сложно представить, что за острой риторикой последуют серьезные политические шаги, такие как предоставление плана действий по членству постсоветским республикам. В качестве компенсации их властям в итоговом документе Россию могут вновь включить в список главных угроз безопасности альянса, но простой констатацией факта сегодня никого не удивишь.[/bilingbox]
Rubaltic: Gleiche Rhetorik auf beiden Seiten
Auf dem Kaliningrader Portal Rubaltic, das sich den Ländern des Baltikums widmet, berichtet Wadim Radionow über eine wachsende Zustimmung zur NATO im Baltikum seit den Ereignissen in der Ukraine 2014. Was die Rhetorik beider Seiten betrifft, erinnert er sich an den Ausspruch einer Fremdenführerin in Sankt Petersburg vor zwei Jahren:
[bilingbox]„Das sind unsere Verbündeten: die Armee und die Flotte“. Und sie fügte hinzu, dass Russland auf niemanden sonst in dieser Welt zählen könne. Diesen Gedanken hatte sie sich offensichtlich von Alexander III. geborgt, dem dieser Satz zugeschrieben wird.
Eine ähnliche Rhetorik kann man auch in Lettland hören: Auch hier spricht man inzwischen von der NATO als quasi einzige Hoffnung und Stütze. Die Rhetorik ist auf beiden Seiten recht ähnlich. Man gewinnt den Eindrück, als würden beide einander bloß „spiegeln“. Doch diese Spiegel sind noch dazu verbogen, was die Situation ins Groteske führt. […]
Im Grunde regiert die Angst – beide Seiten handeln, während sie immerzu aufeinander schauen. Die NATO schickt ein paar Panzer ins Baltikum – Russland verstärkt seine Truppen in Kaliningrad. Um das aufzuhalten, müsste man wohl aufhören, sich gegenseitig zu fürchten. Aber das ist, wenn man die allgemeine Nervosität bedenkt, keine leichte Aufgabe. Und genau an guten Psychiatern fehlt es momentan.~~~«Наши союзники – армия и флот». И добавила, что России больше не на кого рассчитывать в этом мире. Эту мысль она, судя по всему, почерпнула у Александра III, которому приписывают эту фразу.
Похожую риторику можно услышать и в Латвии, здесь теперь тоже говорят об армии НАТО как практически единственной надежде и опоре. Риторика в обеих странах очень похожа. Складывается впечатление, что они просто «зеркалят» друг друга. Но зеркала эти еще и кривые, что доводит ситуацию до гротеска. […]
По сути, ситуацией управляет страх – стороны действуют, глядя друг на друга. НАТО пригоняет танки в Балтию, Россия усиливает свою группировку в Калининграде. Наверное, чтобы остановиться, нужно перестать бояться друг друга. Сделать это, учитывая общую нервозность, будет очень непросто. А хороших психиатров сейчас как раз не хватает.[/bilingbox]
dekoder-Redaktion
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