„Ich erlaube mir, ich zu sein“

„Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“

Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev. 
Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.

Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev

 

Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM

 

Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt. 
Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURA

 

Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ

 

Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA

 

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)

 

Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA 

 

Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG

 

Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA

 

Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)

 

Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA

 

Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN

Fotograf: Oleg Ponomarev
Bildredaktion: Andy Heller
Original: Takie Dela
Veröffentlicht am 10.12.2020

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