Playlist: Best of 2017

Die besten russischen Interpreten des Jahres 2017 – von HipHop über Indie bis Experimental. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, genial. Эщкере!

WUNDER DES JAHRES

AIGEL: 1190

Die wunderbarste Erfolgsgeschichte einer Musikgruppe 2017: AIGEL ist das gemeinsame Projekt der Kasaner Dichterin und Sängerin Aigel Gaisina und des Petersburger Elektromusikers Ilja Baramija. Obwohl das Debutalbum 1190 eine Belastungsprobe ist – die Texte von Aigel Gaisina entstanden aus der Sorge um ihren Liebsten im Gefängnis, und Ilja Baramija legte einen harten Industrial Beat darunter – begann die Band augenblicklich, die größten Konzerthallen des Landes zu stürmen. Und Ende des Jahres geschah ein wahres Weihnachtswunder: Der Liebste von Aigel Gaisina kam auf Bewährung frei.


BATTLE DES JAHRES

Weshliwy Otkas: Wojennyje Kuplety (dt. „Kriegs-Couplets“)

Das Vorgänger-Album Gusi-Lebedy (dt. „Gänse – Schwäne“) dieses Klassikers des Moskauer Experimental-Rocks kam vor sieben Jahren heraus – man musste also ziemlich lange warten. Dieses Mal dekonstruiert die Band unter der Führung von Roman Suslow das Genre der sowjetischen Kriegslieder und führt es über in gewohnt raffinierten, kunstvollen, ehrlichen Rock. Weshliwy Otkas ist fern jeden Verdachts, irgendeine Konjunktur bedienen zu wollen – was sie machen, ist reine Kunst; offenbar deswegen steckt in ihren klingenden Schlachtengemälden mehr russisches Leben und mehr Wahrheit als in dem, was man den Leuten derzeit im Kino oder Fernsehen zeigt.


Nächtliches Rendezvous des Jahres

Luna: Ostrow Swobody (dt. „Insel der Freiheit“)

Hypnotisierender, atmosphärischer dance einer jungen ukrainischen Sängerin. Während die User in den Sozialen Medien noch die Single Tajet led (dt. „Das Eis schmilzt“) der Band ihres Mannes hörten, zog Kristina Bardasch leise ihre Kreise und nahm ein Album faszinierender Pop-Schlager auf, die in einen Klub genauso passen wie in eine Kunstgalerie, so eine schnelle Unterwasser-Diskothek ist das.


Teamwork des Jahres

Kubikmaggi: Things

Kubikmaggi geht auf die Pianistin und Sängerin Xenia Fjodorowa zurück, Tochter des bekannten Leonid Fjodorow. In ihrem dritten Album hat sich die Petersburger Band in ein reifes, selbstsicheres und erfinderisches Team verwandelt, das instrumentale Stücke aufnimmt, die irgendwo zwischen Experimentaljazz, akademischem Minimalismus, blumigem Prog-Rock und romantischer Kinomusik liegen. Großzügige Musik, die von der Freude talentierter Musiker am gemeinsamen Spiel zeugt.


Väter des Jahres

Kasta: Tschetyrjochglawy orjot (dt. „Der vierköpfige Heuler“)

Letzten Endes ist dies ein Album, das junge Papis geschrieben haben. Es ist das erste Album seit fast zehn Jahren der Rap-Autoritäten aus Rostow, und es stellt ein ganzes Bündel heikler Lebensfragen, beantwortet sie, und zwar so, wie es es Väter tun: ehrlich, genau, mit Humor und ausgiebig.


Russische Marke des Jahres

Utro: Treti Albom (dt.„Drittes Album“)

Utro besteht aus Mitgliedern der Rostower Band Motorama, die als eine der berühmtesten russischen Indie-Rock-Bands im Ausland bekannt dafür ist, dass sie ihre Lieder auf Russisch singt. Und auf dem Treti Albom tun sie das ganz ausgezeichnet. Motorama und Utro gaben den Standard vor für existenziellen, repetitiven Post-Punk mit pulsierenden Rhythmen und dem Beigeschmack provinzieller Ausweglosigkeit, der in unseren Breiten (warum auch immer) sehr etabliert ist. Es gibt eine ganze Phalanx einander ähnlicher Bands, und ein Festival, wo sie voreinander auftreten. Utro und seine traurigen, schneebedeckten Lieder halten diese russische Marke auf Niveau.


PLATTEN DES JAHRES

Chaski: Ljubimyje pesni (woobrashajemich) ljudej (dt. „Die Lieblingslieder [ausgedachter] Leute“)

Ein wesentlicher Teil des diesjährigen russischen Raps schien einem polierten Hochglanzmagazin entnommen zu sein, auf dessen Seiten junge Männer sich gegenseitig mit den Marken ihrer Autos, der Dicke ihres Geldbeutels und der Menge an persönlich beschlafenen Models salbungsvoll zu überbieten versuchen. Doch auf dem Album des in Ulan-Ude geborenen Dimitri Kusnezow ertönt in gereimten Versen die Stimme der Straße und Gassen, der neunstöckigen Plattenbauten und der dreckigen Hinterhöfe.


Schwung des Jahres

Noggano: Lakscheri (russ. Umschrift für engl. „luxury“)

Eine extrem umfangreiche, fast dreistündige Album-Playlist von Bastas pöbelndem Alter-Ego, die von allem etwas hat: Von Verbrechergeschichten, die Naggano stets am besten gelingen, über Kosaken-Trap und noblen Restaurant-Sound bis hin zu absurdistischer Tanzfolklore, Bruder-Romantik der 1990er und phantasmagorischen Geschichten im Geiste Hunter S. Thompsons. Witzig und unglaublich lebendig.


EIGENHEIT DES JAHRES

Lena Tschernjak: Fbromance

Die trübe Melange aus elektronischer Musik und Gesang der Petersburger und Pariser Sängerin ist der ideale Soundtrack für ein unvermitteltes Herausfallen aus der Wirklichkeit — weiß der Teufel wohin. Aufgenommen wurde das Ganze mit der Unterstützung zweier prominenter Vertreter der Petersburger Elektro-Szene: Alexander Saizew und Ilja Belorukow.


MORAL DES JAHRES

LSP: Tragic City

Lifestyle-Rap als Moralität, als finsteres Arthouse-Drama über die furchteinflößende Leere, die sich in Wirklichkeit verbirgt hinter den meisten Rap-Songs über das schöne Leben und die Besteigung des Olymp.


TRIP DES JAHRES

PTU: A Broken Clock Is Right Twice a Day

Wichtigste Meinungsmacherin und Propagandistin russischer Musik im Westen war auch im Jahr 2017 Nina Krawiz. Die sibirische DJane begann ihre Karriere in Berlin und veröffentlicht auf ihrem eigenen Label Trip klugen Techno und experimentelle elektronische Musik. Das größte Lob aus der Gruppe ihrer Protegés gab es für das Kasaner Duett PTU, das bei Nina Krawiz sein Album A Broken Clock Is Right Twice a Day herausbrachte. Ein leicht irrer elektronischer Sound, dessen Spektrum von Ambient bis Acid Techno reicht und zu dem man, erwiesenermaßen, hervorragend tanzen kann.


ÜBERBLEIBSEL DES JAHRES

Leonid Desjatnikow: Incidental

Das russische Label Fancy Music, das für seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ernster Musik bekannt ist, beendet ein intensives Jahr mit dem heutzutage nur noch sehr selten zu hörenden und spezifischen Sound von Leonid Desjatnikow: Das Album enthält den Foxtrott aus Mischen [dt. „Zielscheibe“; ein Fantasy-Drama von 2011, zu dem Leonid Desjatnikow die Fimmusik schrieb – dek] das musikalische Thema aus einem der ersten postsowjetischen Thriller Prikosnowenije [dt. „Berührung“; ein Thriller aus dem Jahr 1992, vom Regisseur Albert Mkrtschjan – dek], Fragmente aus der Begleitmusik zum Theaterstück Shiwoi Trup [dt. „Der lebende Leichnam“, ein Stück von Lew Tolstoi – dek], einen Klezmer-Tango aus Sakat [dt. „Sonnenuntergang“, Film von Alexander Seldowitsch aus dem Jahr 1990, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Isaak Babel – dek], das frühe, auf französischen Märchentexten aus der Maghreb-Region basierende Tri Istorii Schakala  (dt. „Drei Geschichten des Schakals“), eine Romanze nach einem Brief, den Gidon Kremer als Kind schrieb, und vieles mehr. Das Album wurde drei Jahre lang aufgezeichnet, während derer man die Noten zusammensuchte, die Musiker versammelte und so weiter. Der Künstler selbst beschreibt es – gewohnt ironisch – als „Reste und Überbleibsel“, doch sind Reste dieser Art mit Gold nicht aufzuwiegen.

Übersetzung (gekürzt): dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 03.01.2018

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