Alarmknopf im Wahllokal

Am 25. Februar werden in Belarus Parlaments- und Kommunalwahlen abgehalten. Es sind die ersten landesweiten Wahlen seit 2020. Damals waren die Präsidentschaftswahlen Auslöser für landesweite Proteste, die nur mit massiver Gewalt niedergeschlagen werden konnten. Seitdem haben zigtausende Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen, Tausende wurden eingesperrt, das Regime setzt seine Jagd auf Andersdenkende fort. Wjatscheslaw Korosten gibt für das belarussische Portal Pozirk einen sarkastischen Ausblick auf eine Wahl, bei der sich das Regime noch nicht einmal mehr um den Anschein von Demokratie bemüht.

So etwas wie die Massenproteste im Sommer 2020 will Alexander Lukaschenko nicht noch einmal erleben. Die Wahlen am 25. Februar sollen vergessen machen, dass das Volk dem Präsidenten bereits ein deutliches „Nein“ gesagt hat. / Foto © IMAGO / Pond5 Images

Einen Monat vor dem Einheitlichen Wahltag gibt es keinen Zweifel mehr: Die Wahlen zur zweiten Kammer des Parlaments und in die Lokalparlamente werden diesmal maximal ehrlich ablaufen. Die Behörden haben jede Imitation von Demokratie aufgegeben und verbergen nichts mehr: Sie werden die Kandidaten eigenhändig auswählen, die Abgeordneten selbst ernennen und die Wähler nicht unnötig mit der Illusion einer Willensäußerung verunsichern.

Und wenn jemand meint, von seiner Stimme würde irgendetwas abhängen, oder schlimmer noch, auf die Idee kommt, auf seine Rechte hinzuweisen, dann werden ihn spezielle Leute per „Alarmknopf“ umgehend eines Besseren belehren.

Nicht, dass es früher so viel anders gewesen wäre. Die Parlamentsabgeordneten wurden auch vorher selektiert und ernannt. Es wäre töricht zu glauben, die finale Liste würde durch die Wähler und nicht durch Alexander Lukaschenko persönlich abgesegnet.

Allerdings war der Herrscher vor 2020 noch gnädig und ließ seine Opponenten wenigstens auf dem Stimmzettel zu. 2016, mitten im Tauwetter, ließ er sogar zu, dass die gemäßigten Oppositionellen Jelena Anissim und Anna Kanopatskaja ein Mandat als Abgeordnete erhielten. Das änderte zwar nichts daran, dass die zweite Kammer des Parlaments ein Ort ist, wo Entscheidungen von oben im Fließbandverfahren abgesegnet werden, aber immerhin wehte einen Hauch von Pluralismus durch den Sitzungssaal.

Jetzt sind die Zeiten völlig andere. Es gibt nicht nur keine oppositionellen Kandidaten, es gibt im legalen Bereich gar keine Opposition mehr: Oppositionsparteien wurden aufgelöst, soziale Bewegungen abgeschafft, abweichende Meinungen sind de facto kriminalisiert. Sämtliche nennenswerte regimekritische Politiker sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Den weniger auffälligen wird klargemacht, dass sie besser die Füße stillhalten und nicht aufmucken. Der Bildung eines neuen Parlaments und der regionalen Räte nähert sich Belarus im Stechschritt in Reih und Glied und ohne Widerrede.

Am 15. Januar war die Nominierung der Kandidaten abgeschlossen. Die Zentrale Wahlkommission meldete munter: Auf 110 Abgeordnetensitze kämen insgesamt 298 Kandidaten – 2,7 auf jedes Mandat. Bei der Wahl 2019 waren es 2,4 Mal mehr – 703 Kandidaten und damit 6,4 pro Sitz.

Man bleibt unter sich, die Kandidaten sind handverlesen und linientreu. Bereit, Lukaschenko und seinem Kurs zu dienen, ihn zu wahren und zu mehren. Es sind Vertreter der vier regierungsnahen Parteien und der offiziellen Gewerkschaften, Beamte, Gesetzeshüter und Propagandisten. Dazu kommen der derzeitige Leiter der Lukaschenko-Regierung, Igor Sergejenko, und die Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit Irina Kostewitsch.

Wir halten die Wahlen für uns selbst ab

Weil den Behörden sonnenklar ist, dass man dem Westen diese „Wahlen“ unmöglich als solche verkaufen kann, machten sie sich nicht einmal die Mühe, OSZE-Beobachter einzuladen. Sie entschieden lieber gleich, nur Vertreter Russlands und anderer befreundeter Länder und Organisationen einzuladen.

Die Entscheidung, die OSZE aus dem Spiel zu lassen, kommentierte Karpenko offen: „Wir haben an sich kein Problem damit“, sagte der Chef der Wahlkommission. „Aber wozu, wenn wir die Wahlen in erster Linie für uns selbst abhalten?“, fragte er rhetorisch. „Für uns selbst“ – das klingt eher nach einer Betriebsweihnachtsfeier als nach einer nationalen Kampagne, an der theoretisch die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes teilnehmen kann.

Die OSZE nahm die rührende Direktheit des Beamten zur Kenntnis, schluckte die bittere Pille und brachte dienstfertig ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck.

Die Silowiki haben indes ihre eigene Rhetorik, und alles deutet darauf hin, dass sich das Innenministerium auf die Wahlen wie auf eine Spezialoperation vorbereitet. Das Ziel ist, die Parlamentsmandate möglichst ungestört an die richtigen Leute zu verteilen.

Am 13. Januar kündigte Innenminister Iwan Kubrakow im Staatsfernsehen an, jedes Wahllokal mit einem „Alarmknopf“ auszustatten, wie ihn auch Bankangestellte für den Fall eines bewaffneten Raubüberfalls haben.

Außerdem seien dem Minister zufolge „bereits jetzt in allen Regionen Überwachungskameras im Umkreis der Wahllokale installiert“ worden.

Am Tag der Wahl, erklärte er weiterhin, würden „nach dem Vorbild von Minsk“, 50 Personen in einem „speziellen Raum“ untergebracht, die (offenbar an den Bildschirmen) jedes Wahllokal in Echtzeit überwachen werden. „Bei der kleinsten Gefahr“, so der General, würden „schnelle Einsatzgruppen“ die diensthabende Polizei verstärken, um eine „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu verhindern.

Die Silowiki lassen derzeit keine Gelegenheit aus, um über die Wahlen zu sprechen. Am 17. Januar sprach der stellvertretende Innenminister, Gennadi Kasakewitsch, anlässlich eines Besuchs in Usda bei Minsk mit seinen Untergebenen über die Unzulässigkeit „extremistischer Äußerungen“ während der Wahlen. Am selben Tag besprach Karpenko mit Offizieren der Inneren Truppen und der Grenzschutzorgane das „Verfahren für die Organisation der Stimmabgabe von Wehrdienstleistenden und Vertragssoldaten“.

Ein paar Details: Die Namen der Mitglieder der Wahlkommissionen sind nun geheim – zu ihrer eigenen Sicherheit. Belarussische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten, dürfen nicht wählen – dort kann man im Notfall ja nicht mal eben eine „schnelle Einsatztruppe“ hinschicken. Und natürlich kann von unabhängigen Beobachtern keine Rede sein.

Kurzum, es wird alles getan, um sicherzustellen, dass nichts die Aufrechterhaltung der „Verfassungsordnung“ (sprich: der Macht Lukaschenkos und seines Regimes) gefährdet.

Ist sie denn durch irgendetwas gefährdet? Aus Sicht der Machtvertikale offenbar schon.

Viele Karrieren hängen davon ab, ob die Wahlen glatt laufen 

Die Verhaltensauffälligkeiten der Behörden vor den Wahlen lassen sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Einer der wichtigsten: Das System, das Lukaschenko errichtet hat, ist zu einer anderen Form der Mobilisierung gar nicht fähig. Ihr politisches Credo scheint zu sein: „Es kann gar nicht genug sein“.

Die belarussischen Behörden können weder flexibel noch nach dem Prinzip der Effizienz arbeiten. Vor allem nicht in letzter Zeit. Wenn Ideologie – dann in Überdosis und überall, bis in die Kindergärten. Wenn Wirtschaft – dann mit strengster Preisregulierung und Strafverfolgung wegen jedem Cent. Wenn Politik – dann ohne die kleinste Alternative, mit Säuberungen, willkürlichen Entlassungen und Razzien in Betrieben. Die Kahlschlag-Methode ist in den Augen der Staatsdiener eben die effektivste. Sie können gar nicht anders.

Man könnte es als Rückversicherung betrachten – nicht so sehr der Vertikalen, sondern ihrer einzelnen Vertreter. Für Karpenko ist es im Grunde die erste wichtige Prüfung im neuen Amt. Für Kubrakow ist es ebenfalls der erste Stresstest. Seit 2020 mussten sich viele aus Lukaschenkos Entourage verabschieden, und die Neuen wollen die Fehler ihrer Vorgänger nicht wiederholen. Viele Karrieren hängen davon ab, wie „elegant“ die nächste Wahl verläuft.

„Das Echo von 2020“ – so lautet eine verbreitete und im Prinzip treffende Erklärung dafür, warum sich das Regime auf die Wahlen wie auf einen Krieg vorbereitet. Die Situation nicht noch einmal erleben wollen, die Traumata loswerden, Rache üben – das sind durchaus logische Motivationen für ein Regime, das bereits am Rande des Abgrunds stand.

Ja, eine Wahlkampagne gab es nach diesen Ereignissen bereits: das Referendum von 2022. Sie haben es planmäßig durchgeführt und alle gewünschten Änderungen in die Verfassung geschrieben. Aber aus irgendeinem Grund hat das keine Ruhe gebracht. Vielleicht, weil vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine erneut Proteste im Lande ausbrachen. Nach einem ruhigen 2021 gingen viele Menschen auf die Straße, die Zahl der Inhaftierten schnellte wieder in die Tausende, und das Okrestina-Gefängnis öffnete wieder sperrangelweit seine Tore.

Sogar in der Kirche spricht Lukaschenko von den Wahlen

Aber die Angst der Machthaber wurzelt natürlich nicht nur in der Vergangenheit. Im Palast auf dem Prospekt der Sieger in Minsk versteht man sehr wohl, dass die Parlamentswahl kein Ereignis ist, das die Gemüter der Bevölkerung übermäßig aufwühlt. Man kann sogar getrost behaupten, dass sich die Belarussen aufgrund der dekorativen Rolle des Abgeordnetenhauses im Staatskonstrukt kaum dafür interessieren. Nicht umsonst wurde im vergangenen Jahr die Beteiligungsschwelle für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgeschafft – so mussten die Behörden die Menschen nicht mehr zur Wahlurne treiben.

Es liegt auf der Hand, dass das Regime die Wahlen von 2024 als Prolog für den Präsidentschaftswahlkampf von 2025 versteht. Eine Generalprobe, die um jeden Preis jedes Lob von oben übertreffen muss.

Experten sind sich einig, dass Lukaschenko vorhat, zum siebten Mal zu kandidieren, auch wenn er im Oktober 2020 bei dem berühmten Treffen mit politischen Gefangenen im KGB-Gefängnis das Gegenteil versprochen hatte. „Ich gebe euch mein Wort, Jungs“, sollen seine Worte gewesen sein, wenn man dem Pseudo-Oppositionellen Juri Woskressenski glauben darf.

Doch die Zeit verging, und Lukaschenko hat sein Wort offenbar zurückgenommen. Und nun ist es der ewige Herrscher selbst, der am häufigsten in der Öffentlichkeit über die Präsidentschaftswahlen spricht.

Sogar als er an Weihnachten eine Kirche in der Agrarstadt Scherschuny besuchte, sprach er von weltlichen Dingen: „Sie werden an uns trainieren. Und wir müssen durchhalten. Sie werden an uns für die kommenden Präsidentschaftswahlen trainieren.“ Die Wahlen seien das Hauptereignis des Jahres, das man „würdig überstehen“ müsse.

Die Präsidentschaftswahlen werden spätestens am 20. Juli 2025 stattfinden, und in der Zeit bis dahin kann wirklich alles passieren.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und niemand weiß, wohin das Pendel ausschlagen wird. Der belarussischen Wirtschaft stehen nach dem Aufschwung im Jahr 2023 voraussichtlich schwierige Zeiten bevor. Auch auf dem vielbeschworenen „weiten Bogen“ [in der Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika] sind keine Durchbrüche zu erwarten. Im Westen nichts Neues. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wächst und droht uns politisch teuer zu stehen zu kommen. Bis zu den Wahlen im Jahr 2025 muss zudem noch eine belarussische Volksversammlung gebildet werden, die dann auch noch einen Vorsitzenden braucht. Das alles macht das Machtsystem zusätzlich kompliziert und erfordert zusätzliche Kontrolle.

Zu allem Überfluss lässt den Herrscher hin und wieder seine Gesundheit im Stich, was Gerüchte von einer vorzeitigen Übergabe der Macht schürt. Diese werden durch das neue Gesetz über die lebenslange Immunität für den Staatschef und die erneute Beschränkung auf zwei Amtszeiten [für neu gewählte Präsidenten] in der Verfassung genährt.

Die Zeit rennt, und sie ist allzu sehr verdichtet. Der Preis für Fehler ist mittlerweile so hoch, dass man sich schlichtweg keine mehr leisten darf.

Entsprechend gibt es keinen Grund mehr, bei den Wahlen einen Wettbewerb zu imitieren. Die Zeiten sind andere.

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