„Niemand wird das Russland jemals verzeihen”

Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen. 

Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.

Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?

Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.

Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?

Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.

 
Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.

Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?

Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz. 

Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?

Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.  

Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben 

Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.

 
Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.

Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?

Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt. 

Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?

Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen. 

Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?

Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist. 

Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet. 

Wofür machen Sie das alles?

Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben. 

 
Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.

Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?

Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten. 

Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt

Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?

Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.          

Letzte Frage: Wird alles gut?

Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!

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