Putins Ökonomie des Todes

Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.

Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago imagesUnter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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