„Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?  

Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.

Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.

Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin  trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert. 

Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.

Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien? 
Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten. 

Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen. 

Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.

Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.   

„Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“

Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“

Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle. 
An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. 

Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert. 
Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins. 
Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter. 
Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam. 

An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand. 

Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft

Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter. 

Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten. 

Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk. 
Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft. 
Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut. 

Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.

Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände

Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen. 

Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
„Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
„Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
„Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals
„Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.   

Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen

In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht. 

Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
„Wer sind Sie?“
„Presse.“
„Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
„Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“  

Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.

Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.

„Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
„Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
„Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“  

‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht 

Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend. 
Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
       
Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht. 
Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden. 
„Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“

Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen 

Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.

Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“   
Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.

Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen

Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.   

Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.   

Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren. 
„Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“

Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘ 

Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
„Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat. 
Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause. 

Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“

Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.

2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab. 

Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.     

Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘

Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.

Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.  
Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“ 
Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.   

Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken. 

„Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“    

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