„Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus. 

Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.

Foto © Sergej Michejew/Kommersant

Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?

Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit. 

Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten. 

In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. 
Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen. 

Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.

Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde

Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.

Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar. 

Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.

Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage

Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“ 

Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.

Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.

Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen

Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten. 

Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.

Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten

Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen. 

Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.

Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution

Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.

Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPbWann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden. 

Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?

Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden. 

Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.

Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.

Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt

Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht. 

Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann. 

Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt. 

Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.

Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte

Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre. 

Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.

Weitere Themen

„Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

Infografik: Wie beliebt ist Putin?

„Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

Das Umfrageinstitut WZIOM

Krasser Cocktail

Sprache und das Trauma der Befreiung


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: