Der Moskauer, den es nicht gibt

Jemand musste Grigori J. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens nicht-existent. Genauso wie tausende andere Menschen aus der Stadt M.

Die Parabel des Soziologen Grigori Judin handelt vom Zulassungsprozess zu den Moskauer Regionalwahlen. Um am 8. September als unabhängiger Kandidat antreten zu können, müssen die Anwärter Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis vorlegen. Laut Moskauer Wahlkommission sollen 13 dieser Anwärter einen zu hohen Anteil nicht-nachvollziehbarer oder gefälschter Unterschriften eingereicht haben. Kommissionschef Valentin Gorbunow erklärte vergangene Woche, dass manche der Unterschriften von Toten Seelen stammten oder von Menschen, die nicht existieren. 

Zu letzteren gehört Grigori Judin. Bevor es in Moskau zu massiven Protesten gegen die Nichtzulassung von rund 20 Oppositionskandidaten kam, schrieb er auf Facebook einen offenen Brief an den Bürgermeister Sergej Sobjanin. Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“.

„Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook

Liebe Freunde!

Mir ist etwas Schlimmes passiert.

Die Sache ist die: Mich gibt es nicht.

Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Dass ich hier für Elena Russakowa unterschreibe, die Kandidatin für die Moskauer Stadtduma aus dem 37. Wahlkreis. Trage Datum und Unterschrift ein unter dem strengen Blick des Ehrenamtlichen, der kontrolliert, dass ich nicht aus dem Formularkästchen rutsche.

Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.

Die Wahlkommission hat bekanntgegeben, dass auf diesem Foto nicht ich abgebildet bin, sondern irgendein Typ, der eine Straftat begeht, indem er meine Unterschrift fälscht. In den letzten 35 Jahren war ich sicher, dass dieser Mensch ich bin, jetzt stellt sich aber raus, dass es mich nicht gibt. Mehr noch: Vielleicht werden sie sich wundern, aber es gibt keine Möglichkeit, zur Kommission zu gehen und ihr zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, und dass diese Unterschrift wirklich von mir stammt. Wenn die Kommission entschieden hat, dass es mich nicht gibt, dann weiß sie das besser als ich. 

Die Sache ist die: Mich gibt es nicht

Im Übrigen ist alles noch viel schlimmer. Es wäre schon irgendwie möglich, mich mit meiner Nichtexistenz anzufreunden: Ich hätte mich allmählich daran gewöhnt, dass alle durch mich hindurchsehen und theatralisch durch mich hindurchsteigen, wenn ich meine Hand reiche.
Allerdings gibt es neben mir auch meine Mutter nicht, hunderte meiner Nachbarn aus dem Wahlkreis sowie zehntausende andere Moskauer. Wir alle sind Phantome. We are the nobodies.

Also, als ein Moskauer Phantom möchte ich sagen, dass dies alles nur aus einem Grund passieren konnte. Weil irgendjemand von Oben gesagt hat: „Diese Kandidaten wird es bei der Wahl nicht geben. Und es interessiert mich nicht, wie ihr das jetzt löst, lasst mich mit diesem Thema in Ruhe.“ Und wie immer in solchen Fällen wurde dieser Befehl bis auf die Ebene der lokalen Wahlkommissionen hinuntergereicht, die ihn im letzten Moment bekamen und entschieden, es so zu machen, wie es halt kommt. Und da alle Unterschriften nun mal echt waren, mussten sie den lebendigen Leuten erklären, dass es sie nicht gibt.

We are the nobodies

In Moskau gibt es nur einen Menschen, der einen solchen Befehl erteilen konnte. Er heißt Sergej Sobjanin. Warum er in den vergangenen Tagen schweigt, das kann ich verstehen: Es ist klar, dass er lieber mit Radwegen und Parks in Verbindung gebracht werden möchte, und nicht mit dem Wahnsinn bei den Wahlen. In Moskau aber gibt es nichts und kann es nichts Wichtigeres geben, als die Leugnung der Existenz tausender Moskauer.

Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“ rufe ich Sergej Sobjanin dazu auf, seinen Mut zusammenzunehmen und sich mit uns zu treffen, um uns eine einzige Frage zu beantworten: wie er dazu steht, dass massenweise Moskauer zu Personen erklärt werden, die nicht existieren und was er in dieser Angelegenheit zu tun gedenkt. Wenn er so viel Angst vor uns hat, dann sind wir sogar bereit, uns mit ihm bei Tageslicht zu treffen.

Ich weiß ganz genau, dass die Antwort bei Sobjanin zu suchen ist. Und wenn Journalisten es wollen, dann werden sie schon eine Antwort erzwingen – sie haben es nicht nur einmal bewiesen.
 

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