„Die Russen sind die neuen Deutschen“ – dieser Vergleich kam in russischen Exil-Kreisen schon wenige Wochen nach Beginn der russischen Vollinvasion auf. Hintergrund war die Annahme, dass alles Russische wegen der Aggression gegen die Ukraine nun pauschal gecancelt würde, genauso wie alles Deutsche während des Zweiten Weltkriegs.
Um zu verdeutlichen, dass man nicht alle über einen Kamm scheren könne, haben einige russische Oppositionspolitiker alsbald das Konzept der „guten Russen“ entwickelt: Russen, die gegen den Krieg und gegen Putin sind und deshalb etwa auch einen entsprechenden Pass verdienen sollten, mit dem sie im Exil nicht Opfer von Diskriminierung würden. Die Idee wurde von allen Seiten verrissen, einer der zentralen Vorwürfe: Eine Selbstviktimisierung sei angesichts des ukrainischen Leids zynisch, alle Russländer trügen kollektiv Verantwortung.
Das Konzept „gute Russen“ wurde in Folgezeit zu einem beliebten Meme, mancherorts mit ironischen Anklängen an den „guten Deutschen“ während der Hitlerzeit. Und obwohl die Idee damit völlig diskreditiert schien, wird das Label immer noch mit jenen Russländern verknüpft, die Hoffnung auf eine liberal-demokratische Zukunft Russlands hegen.
Wenige Tage nach der „Operation Spinnennetz“ gegen mehrere russische Militärflugplätze schreibt der ukrainische, russischsprachige Schriftsteller Boris Chersonski einen Facebook-Beitrag, in dem er dieser Hoffnung widerspricht und dafür plädiert, weniger die „guten Russen“ zur Zielscheibe zu machen und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Ein brennender russischer Pass, Symbolbild. © Pavlo Bagmut/ Ukrinform/ Imago
Ein paar Worte über „die guten Russen“. Wir sind in vielem derselben Meinung. Zumindest hätten sie, wäre es nach ihnen gegangen, nie und nimmer einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Deswegen möchte ich nicht, dass diese Menschen, von denen ich viele schon sehr lange persönlich kenne, zur Zielscheibe scharfer und in weiten Teilen unfairer Kritik werden. Antiputinismus, eine Orientierung an europäischen Werten und liberales Denken – ist das, was uns vereint.
Ihre wichtigsten Schwachpunkte sind offensichtlich, und vielleicht spricht man deswegen nicht gern über sie, weil irgendwie ja ohnehin alles klar ist.
Und das war’s dann wohl auch schon mit den Gemeinsamkeiten zwischen uns und den guten Russen.
Sie lieben ihre Heimat. Sie sorgen sich um sie, wollen dahin zurück und wollen weiter eine Rolle in Kultur und Politik spielen.
Auch wir lieben unsere Heimat, sorgen uns um sie, wollen dahin zurück und nach Kräften an ihrem kulturellen und (nicht alle!) politischen Leben teilhaben.
Ist das eine Gemeinsamkeit? Nein, denn ihre Heimat ist für uns etwas anderes. Ihr Land verstümmelt seit vielen Jahren unser Land, tötet unsere Leute.
Unser Land hat gerade erst gezeigt, dass dieses Spiel in beide Richtungen geht. Wir greifen ihr „unantastbares Territorium“ an, zerstören Militär- und Energie-Infrastruktur und ja, bringen Tausende ihrer Soldaten um (genauso wie sie unsere).
Und das ist der Punkt: Um unsere Soldaten tut es mir leid. Um ihre – nicht wirklich. Bei ihren Worten naschi maltschiki (dt. unsere Jungs) schüttelt es mich.
Gleichzeitig verstehe ich, dass es ihnen um ihre Jungs leidtut, aber um unsere … na ja, anstandshalber. Ich verstehe das. Ja, sie identifizieren sich mit denen, die auf den ukrainischen Schlachtfeldern fallen.
Sie machen sich Gedanken, wie es mit ihrer Kultur auf unserem Territorium weitergeht. Dieses Thema beunruhigt mich als vorwiegend russischsprachigen Schriftsteller ebenfalls. Aber natürlich anders als sie: Aus ihrer Sicht müsste ich mich irgendwie mehr dafür einsetzen. Ich finde aber, sie sollten sich fragen, wie sie ihre Kultur auf ihrem Territorium schützen können.
Sie sehen die Zukunft ihres Landes als liberale, demokratische Gesellschaft. Was ich NICHT SEHE. Auch nicht, wenn ich näher hinschaue, mir die Augen reibe, eine Brille aufsetze. ICH SEHE DAS NICHT: Sehe ich meine Freunde in eine demokratische Föderation zurückkehren? Nein. Höchstwahrscheinlich werden sie ihr Leben im Exil verbringen. Und Hoffnungen auf Reformen … sind Wunschträume.
Und bei alldem – sie sind nicht unsere Feinde. Eher sind sie temporäre Bündnispartner, Wegbegleiter, die trotz aller Gemeinsamkeiten bestimmt irgendwann eine andere Abzweigung nehmen. Lasst uns aufhören, sie zur Zielscheibe zu machen. Wir haben genug andere, die unsere Pfeile verdient haben, wo wir schon den Bogen gespannt haben.
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