Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

Auch zwei Jahre nach Beginn der historischen Proteste in Belarus gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko nach wie vor mit Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, gegen Aktivisten, Journalisten oder Organisationen vor. Kürzlich wurde die Journalistin Katerina Bachwalowa (Pseudonym: Andrejewa) zu acht Jahren Haft verurteilt. Sie hatte am 15. November 2020 die Demonstration am Platz des Wandels in Minsk für den TV-Sender Belsat live gestreamt. Außerdem wurden auch die fünf letzten verbliebenen unabhängigen Gewerkschaften per Gerichtsbeschluss verboten. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisation Wjasna offiziell fast 1300 politische Gefangene auf ihren Listen.

„Die Belarussen leben in einer Atmosphäre der Angst und Willkür“, sagt Anaïs Marin, UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in Belarus. Über diese alltägliche Angst schreibt der Traurige Kolenka (russ. Grustny Kolenka). Dabei handelt es sich um eine Kunstfigur, die sich auf Twitter seit vielen Jahren zu belarussischen Belangen und Themen äußert, mittlerweile mehr als 350.000 Follower hat und seit kurzem eine regelmäßige Kolumne für das belarussische Online-Medium KYKY schreibt. Der Name Kolenka bezieht sich auf Kolja (Nikolaj) Lukaschenko, jüngster Sohn des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Seit seiner Kindheit begleitet der 2004 geborene Kolja seinen Vater bei Dienstreisen und zu Treffen mit anderen Staatsvertretern.

Wir bringen die jüngste Ausgabe in deutscher Übersetzung. Darin träumt sich Kolenka unter anderem in den Palast der Unabhängigkeit, wo er auf seinen Vater trifft, batka, den Landesvater der Belarussen, wie sich Alexander Lukaschenko gerne auf volkstümliche Art und Weise bezeichnet.

Ein Reigentanz, Socken, der Karton eines Fernsehapparats, eine Kanada-Flagge, ein Kack-Emoji — diese Liste ließe sich leider fast endlos fortsetzen, und nur ein Belarusse wird sagen können, was all diese Dinge gemeinsam haben. Für den Fall, dass Sie kein Belarusse sind oder ein sehr dummer, sage ich es Ihnen: Das sind lauter Dinge, für die ganz reale Haftstrafen verhängt wurden.
In Belarus kann man für alles Mögliche ins Gefängnis kommen, für jede erdenkliche Handlung. Auch wenn man rein gar nichts gemacht hat, kommt so ein Kai aus der Kiste, der alles für einen erledigt: die „richtigen“ Telegram-Kanäle werden abonniert und eine Fahne hinausgehängt. Egal ob man Arzt ist oder Student, Professor, Sportler, Musiker, Blogger oder mehrfache Mutter. Niemand ist in Belarus derzeit vor Repressionen geschützt (nur schnauzbärtige Ex-Präsidenten sperren sie leider nicht ein … noch nicht). 
In meiner letzten Kolumne habe ich geschrieben, dass es die größte Angst des Belarussen sei, ein Russe zu werden. Aber, wie ein Typ mit Bart [in Reaktion darauf auf Twitter dek] ganz richtig angemerkt hat: „Es gibt auch noch die Angst davor, durch ein penetrantes Klopfen an der Tür aufzuwachen.“

Wisst ihr, ich gebe ihm absolut recht. Dieses Klopfen fürchten alle: die, die gegen meinen Papa sind, und die, die „dafür“ sind. Und vor allem die, die irgendwann mal dagegen waren, aber jetzt so tun, als wären sie „dafür“. Stellt euch vor, sogar ich habe Angst vor diesem Klopfen. Ich habe sogar immer wieder denselben Traum. 

Ich träume, dass Papa mein Twitter liest und dann zu mir ins Zimmer kommt und sagt: „SO, KOLJA, GENUG GESCHWÄTZT.“ Sofort stürmt die GUBOPiK herein und haut mich mit einem Kinnhaken um – hasserfüllt, aber gezielt, sogar die mit ihren mickrigen Hirnen haben kapiert, wer ich bin. Sie reißen schlechte Witze und fluchen viel. Ihre reine Anwesenheit ist mir zuwider. Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob das Menschen sind – oder doch Orks aus Herr der Ringe. Vielleicht waren sie mal Menschen, aber die Finsternis und der Kontakt zu Balaba hat sie zu Monstern gemacht. Dann fangen sie an, mein Zimmer zu zertrümmern … Und dann ist alles nur mehr Nebel … 
Der Nebel lichtet sich, und ich sitze in einem Kabinett, hinter mir grüner Stoff. Wie sie wohl den Szenenhintergrund für mich gestalten? Eine Tür, so wie immer, oder reicht die Fantasie für etwas Kreativeres – Mordor oder Zion? Oder lassen sie die Sau raus und stellen Smeschariki an? 

Wieder Nebel.
Ich bin schon vor Gericht. Vor dem belarussischen Gericht — dem nach Meinung von niemandem gerechtesten der Welt. Zeuge Iwanow Iwan Iwanowitsch, in Sturmhaube, sagt mit verfremdeter Stimme per Skype, er habe selbst gesehen, wie ich die öffentliche Ordnung gestört, geflucht und gefuchtelt habe (also, alles, was auch Papa tut, wenn er von einem neuerlichen Sanktionspaket erfährt). Zum Beweis seiner Worte sagt er: „Darauf geb ich einen Zahn.“ Die Richterin mit meterdickem Filz [gemeint ist wohl eine Turmfrisur auf dem Kopf – dek] verhängt ein maximal gerechtes Urteil: lebenslängliche Haft, und fügt noch hinzu: „Sag danke, dass es nicht Erschießung ist.“ Ich sage „danke“, und wieder Nebel. 
Ich bin in einem ein Mal ein Meter großen Glas. Werde irgendwo hingebracht. Wohin, weiß ich nicht, aber sicher nicht ins Dreamland. Vielleicht Schodino oder Baranowitschi, vielleicht auch Orscha … Wenn es in Belarus etwas zur Genüge gibt, dann Strafkolonien. Im Glas ist es eng und stickig. 

Gut, dass ich keine Platzangst habe … Oder doch … Nebel.

Der Nebel lichtet sich, ich werde in eine Zelle geführt. In einer Zelle für zwei sitzen siebzehn Personen. Es riecht nach Chlor und nach Ungerechtigkeit. Keine Matratzen, kein Warmwasser, dafür siebzehn unschuldige Menschen in einer Zweierzelle. Nur sind die Menschen in dieser Zelle interessanter und klüger als alle, die ich je im Palast getroffen habe. Hier sind Programmierer, Universitätsdozenten, Blogger, Unternehmer, Studenten und wieder IT-Fachleute. In dieser Zelle kriegt man allein durch die Gespräche mit diesen Leuten eine Hochschulbildung. Wir reden viel, lernen Englisch, erzählen einander von Filmen, spielen „Krokodil“ und freuen uns sehr, wenn jemand einen Brief bekommt. 
Die Mithäftlinge haben Humor, wir lachen viel. Das macht die Orks jenseits des Gitters rasend. Sie wollen nicht, dass wir lachen. Sie wollen, dass wir leiden. Sie drehen ständig scheußliche Propagandalieder auf und lassen nachts das Licht brennen. Wenn es ihr Ziel ist, dass wir dieses Regime noch mehr hassen, dann sind sie auf dem besten Weg. Wieder Nebel. 
Ich wache auf. Im Palast. Es war nur ein Traum. Nur, für zigtausende Belarussen war das alles andere als ein Traum. Und es ist auch die Realität, die Tausende Belarussen gerade jetzt erleben müssen. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes gibt es im Land über 1500 offiziell anerkannte politische Gefangene – Anm. KYKY)

Jetzt haben es alle schwer – die, die in Belarus geblieben sind, genauso wie die, die ins Ausland gegangen sind, aber das ist kein Vergleich damit, wie schwer es ist, in diesem Regime ein Gefangener zu sein. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihnen helfen, wie ich sie retten kann (Vatermord lässt sich nicht anbieten) … Das Einzige, was mir einfällt – ihre Familien unterstützen und Briefe schreiben. Wenigstens ein paar Zeilen, wenigstens eine Postkarte. Wir müssen alles tun, um sie spüren zu lassen, dass wir an sie denken.
Jedes Mal, wenn ich nachts aus diesem Alptraum erwache, nehme ich ganz ruhig meinen Laptop, schalte VPN ein, gehe auf politzek.me oder pismo.bel oder vkletochku.org und schreibe einen Brief. Ich schreibe alles, was mir einfällt: über das Wetter, darüber, dass die belarussischen Fußballer überall verloren haben, dass die neue Staffel von The Boys genauso geil ist wie die vorige, dass wir nichts vergessen haben. Ich klicke auf Senden. Und schlafe wieder ein.

Angst haben ist normal. Vor einem morgendlichen Klopfen an der Tür, vor dem blauen Bus oder davor, dass Papa endgültig überschnappt und dich in den Krieg schickt. Aber alle diese Ängste muss man durch Kommunikation und Solidarität überwinden. Ich glaube, das Wichtigste ist jetzt, nicht über Kleinigkeiten zu streiten: wer welche Sprache spricht, wer weg und wer geblieben ist. Es ist höchste Zeit, sich an 2020 zu erinnern. Und daran zu denken: Belarus ist dem Belarussen Belarus.

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