Vom Ökostrom-Vorreiter zum Erdöl-Junkie

Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion hatte das alles schon. Wie die UdSSR zunächst Vorreiter der erneuerbaren Energien wurde und weshalb daraus schließlich doch nichts wurde – das beschreibt Konstantin Ranks in einem Rückblick auf Republic.ru.

Der Sonnenofen „Sonne“ lenkte mit Hilfe von Heliostaten das Sonnenlicht auf einen Sammelspiegel / Fotos © Victor Borisov/Livejournal

Was erneuerbare Energien angeht, liegt Russland weit hinter den Weltmarktführern zurück. Was bei genauerer Betrachtung recht sonderbar ist: Denn noch vor einem halben Jahrhundert gehörte Russland zur Avantgarde innerhalb der Bewegung für eine neue Energiewirtschaft. Damals ging es allerdings noch nicht um ökologische Nachhaltigkeit – eher um eine billige Energievariante.

Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber bis Mitte der 1960er Jahre war die Sowjetunion im Grunde Erdölmangel-Land. Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energiequellen war eine objektive Notwendigkeit – zumal der Führer des Weltproletariats Lenin und seine Gesinnungsgenossen die saubere Elektroenergie als Hauptquell der neuen Industrialisierung ansahen – und nicht die durch Dampf oder Benzin erzeugte Energie. Der GOELRO-Plan zur staatlichen Elektrifizierung Russlands aus dem Jahr 1920, der von einem 200-köpfigen Wissenschaftlerkollektiv vorgelegt worden war, sah den Einsatz unterschiedlichster Energiequellen vor.

Exotische ingenieurtechnische Forschungen

Die Frage, wo die elektrische Energie herkommen sollte, um Industriebetriebe und die über das riesige Land verteilten Orte zu versorgen, regte zu recht exotischen ingenieurtechnischen Forschungen an, die bis Anfang der 1990er Jahre fortgeführt wurden. Im Moskauer Krshishanowski-Institut für Energietechnik erforschte man die Nutzung von Sonnenenergie mit dem Ziel, Sonnenöfen und Solarheizkraft­werke zu bauen.

Ein Solarofen namens Sonne in Taschkent

Ein Solarofen namens Sonne wurde 1981 in der Nähe von Taschkent errichtet. Der Ofen war mit 62 beweglichen Heliostaten ausgestattet, die die Sonnenstrahlen auf einen Sammelspiegel lenkten; dieser wiederum bündelte die Strahlen dann auf einem speziellen Versuchstisch. Innerhalb weniger Sekunden stieg die Temperatur im Brennpunkt des Systems auf über 3000 Grad Celsius. Das ermöglichte es, das Verhalten von Stoffen unter den Bedingungen des sogenannten thermischen Schocks zu untersuchen.

62 bewegliche Heliostaten bündeln das Sonnenlicht auf einem Versuchstisch – in kürzester Zeit steigt die Temperatur auf über 3000 Grad Celsius

Das Sonnenwärmekraftwerk SES-5 funktionierte nach dem gleichen Prinzip: Ein System von 1600 Heliostaten, die sich automatisch nach der Sonne ausrichteten, warf das Sonnenlicht auf einen in der Spitze des 99 Meter hohen Turms untergebrachten Dampfkessel. Der erhitzte Dampf wurde in den Turbinenraum im unteren Teil des Turms geleitet. Mit Hilfe der dort befindlichen Wärmespeicher konnte der Normalbetrieb des Kraftwerks für drei bis vier Stunden aufrecht­erhalten werden, etwa im Fall unerwarteter Bewölkung.

Das Kraftwerk stand im Osten der Krim, seine Leistung betrug 5000 kW, womit es damals (1985) zu den stärksten Solarkraftwerken der Welt gehörte. Im Übrigen war das Krim-Kraftwerk in erster Linie eine Versuchsplattform, dort sollte erarbeitet werden, welche Besonderheiten bei einem Kraftwerk mit erheblich höherer Leistung zu beachten wären. Doch als mit dem Zerfall der UdSSR die Finanzierung eingestellt wurde, stellte auch SES-5 seinen Betrieb ein und kam auf den Schrott.

Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft

Insgesamt hatte die Nutzung von Wasserkraft einen bedeutenden Anteil an der Energiebilanz des Landes (bis zu 20 Prozent). Doch die Gewinnung von Wasserkraft im Flachland erfordert den Bau von Staudämmen (und verursacht entsprechende Kosten), wohingegen die Nutzung von Windkraft nichts Derartiges notwendig machte.

Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen: Die Sowjetunion war lange Zeit Vorreiter in der Entwicklung erneuerbarer Energie

1923 hatte der sowjetische Staat für die Windkraftanlage des Kursker Erfinders Anatoli Ufimzew 5000 Rubel bereitgestellt. Im Februar 1931 ging das Kraftwerk an den Start. Die Erfinder sahen für die Windkraft in Russland eine große Zukunft – sie sprachen [in Anspielung auf Lenins Staatsplan zur Elektrifizierung] von der „Anemofizierung“ Russlands: das Ufimzewsche Windrad überlebte sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch seine Erbauer und gab erst in den 1950er Jahren seinen Geist auf.

Nach dem Krieg wurden serienmäßig kleinere Windaggregate für den Betrieb von Rundfunkstationen und für die Ortsbeleuchtung hergestellt. Damals kamen auch die sogenannten kombinierten Windkraftanlagen auf, bei denen Windgeneratoren mit Dieselanlagen kombiniert wurden (sobald der Wind nachließ, sprangen automatisch die Dieselgeneratoren an).

Auf der Suche nach dem Energie-Eldorado der UdSSR

In den 1950er Jahren weckte die Suche nach einem Energie-Eldorado in der UdSSR das Interesse an den unterschiedlichsten Energieformen. Neben industriellen Experimenten mit Atom-, Sonnen- und Windenergie wurde auch Exotischeres erforscht. So zum Beispiel im Jahr 1966 in einem Flusstal auf der Kamtschatka-Halbinsel, wo ein Geothermie-Kraftwerk mit einer Leistung von 5000 kW gebaut und in Betrieb genommen wurde – es war landesweit das erste und weltweit das erste mit Niedertemperatursystem. Solche Kraftwerke, die als Wärmeträger leichterhitzbare Flüssigkeiten benutzen, hätte man gut auch im Nordkaukasus, in Ostsibiren und sogar in der Ukraine errichten können.

Erdölmangelverwaltung

Offensichtlich konnte Sowjetrussland auf dem Gebiet der Erdölförderung mit den entwickelten Ländern nicht Schritt halten. Obwohl 1932 Öl in Baschkirien entdeckt worden war, kam die Erschließung nur schleppend voran. Zwar betonte die sowjetische Führung stets die Notwendigkeit, die Erdölförderung auszubauen, Öl galt als strategische Ressource, unter anderem für Verteidigungszwecke. Die Frage, weshalb sie damals dennoch prioritär auf Kohleförderung setzte, ist in der Geschichtsforschung Gegenstand zahlreicher Diskussionen.

Ende der 1960er Jahre hatte die Sowjetunion die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten

Der Entwicklung erneuerbarer Energien hingegen lag eine klare Logik zugrunde: Je mehr die nur knappen Erdölprodukte durch „kostenlose“ Elektrizität ersetzt werden konnten, desto mehr blieb für den Bedarf von Armee, Luftwaffe und Flotte sowie weitere nach Ansicht der sowjetischen Führung elementare Aufgaben übrig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell klar, dass großzügige Erdölreserven eine entscheidende strategische Ressource darstellten. Die USA schwammen in billigem Öl. Auch die Europäer hatten diese Quelle angezapft, aber das Fahren solcher Riesenschlitten, wie sie bei den Amerikanern mittlerweile beliebt waren, konnte man sich im vom Krieg zerstörten Europa und in der UdSSR nicht leisten. Der Bau von Wasserkraftwerken, eines leistungsstärker als das andere, die Errichtung des ersten Atomkraftwerks der Welt in Obninsk, Experimente mit Wind-, Erdwärme- und Flutkraftwerken waren weniger Ausdruck eines neuen Umweltbewusstseins, als vielmehr Konsequenz mangelnder Kohlenwasserstoff­reserven.

Das „große Öl“ in Westsibirien

Kurioserweise gab es nach der Entdeckung des „großen Öls“ in Westsibirien 1963 noch mehrere Jahre ein Gerangel mit den Wasserkraftanhängern, die im Flusstal des Ob ein neues Wasserkraftwerk bauen wollten. Doch Ende der 1960er Jahre und besonders nach dem Erdölembargo der arabischen Länder 1973 sah die sowjetische Führung im Öl eine einfache Lösung für den Berg von Problemen, mit denen sich die Wirtschaft der UdSSR konfrontiert sah.

Die Arbeit mit erneuerbaren Energieträgern verlor vor diesem Hintergrund für die Parteiführung an Reiz. Sie verteilte nun begeistert Öldevisen an Länder, die sich für den „sozialistischen Entwicklungsweg“ entschieden hatten. 

Entwicklung zum Erdöl-Junkie

Im Westen hingegen setzte ab Mitte der 1970er Jahre im Zuge der Vervierfachung des Erdölpreises ein rasanter Wettlauf um die Effektivierung der Ressourcennutzung ein. Letztlich hatte die Sowjetunion Ende der 1960er Jahre die Chance verpasst, in der Entwicklung moderner Technologien weiter mitzuhalten. Sonnenöfen und Wärmekraftwerke, Windgeneratoren- und Hydrothermal­kraftwerke auf der Basis von Niedertemperatur-Kältemitteln – das alles war Weltniveau. Darüber hinaus war im Wolga-Automobilwerk jahrelang an der Entwicklung von Elektroautos gearbeitet worden.

Jahrelang arbeitete man im Wolga-Automobilwerk an der Entwicklung von Elektroautos / Foto © Sergey.G/flickr

Welches Verhängnis für Russland darin lag, sich zum „Öl-Junkie“ zu entwickeln, erkannte man sogar in der Erdölbranche. Der Entdecker des sibirischen Öls Salman Farmanow sowie der ehemalige Erdölindustrie-Minister und stellvertretende Vorsitzende des sowjetischen Ministerrats Nikolaj Baibakow hatten in den 1980er Jahren nachdrücklich davor gewarnt, dass eine Wirtschaft, die sich auf den Ölhandel gründet, das Land in die technologische Abhängigkeit führen werde. Doch um diese Gefahr abzuwenden, war es bereits zu spät, wie die folgende Entwicklung zeigte. Dass neue Generationen von russischen Ingenieuren in der Lage sein werden, auf dem Gebiet der regenerativen Energien Neuigkeiten vorzulegen – davon kann man ausgehen.

Das Problem liegt vielmehr darin, dass es eine Nachfrage für diese Entwicklungen nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch in Russland geben müsste. 

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