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Zettel-in-die-Urne-Werfen statt Wählen

Trotz einiger weniger Achtungserfolge der Opposition verlief der Einheitliche Wahltag am 13. September in den meisten Regionen Russlands ohne Überraschungen: Die Regierungspartei Einiges Russland gewann die Mehrheit in den regionalen Parlamenten, die Gouverneurssitze wurden von den Kreml-Kandidaten besetzt. 

Schon seit geraumer Zeit gilt der Gang an die Wahlurne in liberal-demokratischen Kreisen Russlands nicht wirklich als Wählen. In einem Autoritarismus, so heißt es in der Politikwissenschaft, dienen Wahlen ja ohnehin nicht zur Legitimierung eines politischen Systems, sondern vielmehr zur Herstellung von Akzeptanz und Akklamation. Akklamation gilt als emotionale Zustimmung zur autoritären Herrschaft: Sie fußt nicht auf rationalen politischen Entscheidungen, sondern eher auf Stimmungen und Symbolen.

Vor diesem Hintergrund hatten Wahlen in Russland bislang zumindest eine symbolische Bedeutung. Unabhängige Medien berichteten darüber, es gab stets ein gewisses öffentliches Interesse. Das blieb am Einheitlichen Wahltag 2020 jedoch gänzlich aus, meint Dimitri Trawin. Für den Wirtschaftswissenschaftler keine Überraschung – „denn niemand braucht wirklich diese Wahl“. Was vom „Zettel-in-die-Urne-Werfen“ zu halten ist, kommentiert er in der Novaya Gazeta.

Wahlen kann man dieses Zettel-in-die-Urne-Werfen nicht mehr nennen. Es gab mal eine Zeit, da weckten selbst derartige „Unwahlen“ Interesse in der Gesellschaft. Diesmal war jedoch kein Interesse festzustellen. Und das ist kein Wunder. Das Schlimme ist, dass im Grunde niemand diese heutige Art und Weise der Abstimmung braucht. 

Erstens: Die Abstimmung kann nicht genutzt werden, um das Putin-Regime zu legitimieren, deshalb ist sie für die Machthaber nicht besonders interessant. Die Manipulation der Wähler hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie nicht mehr als Manipulation durchgeht, sondern als offene Fälschung, als Imitation von Wahlen. Ungefähr so wie in dem beliebten Witz, der derzeit bei den belarussischen Protesten kursiert: „Ein Mann geht die Straße entlang, die Miliz greift ihn sich und prügelt auf ihn ein. Er schreit: ,Bitte nicht schlagen, ich habe Lukaschenko gewählt!‘. Darauf die Antwort: ,Lüg doch nicht. Keiner hat ihn gewählt.‘“

Unterm Strich hält sich Lukaschenko schon heute nur an die nackte Gewalt, und Putin wird morgen dasselbe tun. Die Meinung des Volkes ist nicht mehr so wichtig, die Zettelchen, die es braucht, um die Formalitäten einzuhalten, landen auch so in der Urne.

Zweitens eröffnet diese Art der Abstimmung, anders als echte Wahlen, der Opposition keine Möglichkeit für einen Machtwechsel, und deshalb verlieren auch diejenigen das Interesse am Wahlgang, die gegen Putin eintreten. Wie hieß es doch so schön in der Sowjetzeit: Wählen oder Nicht-Wählen – du kriegst sowieso Einiges Russland oder im äußersten Fall die Kommunistische Partei oder die LDPR. Sogar die, die sich kürzlich noch für [Nawalnys – dek] Smart-Voting-Konzept starkmachten, verlieren jetzt das Interesse daran. Denn die Idee des Smart-Votings basiert darauf, dass der stete Tropfen den Stein höhlt. Doch diese Art, das Regime langsam auszuhöhlen, gefällt nur einigen wenigen. Nämlich nur denen, die der Meinung sind, dass man am Wahltag nicht auf dem Sofa sitzen kann, sondern irgendwas tun muss, und sei es noch so aussichtslos. Der Großteil aber will Ergebnisse, und zwar hier und jetzt. Das Smart-Voting ergibt hier und jetzt viel zu wenig, um das Interesse einer auch nur halbwegs breiten Masse wachzuhalten.

Drittens ist diese Abstimmung nicht mehr interessant für die, die die Dynamik des politischen Wettkampfs lockt. Es ist schwer heute etwas Langweiligeres zu finden als den Gang zum Wahllokal. Niemand kämpft mit niemandem, niemand verspricht irgendetwas Neues, niemand spinnt Intrigen, niemand behauptet, dass sich das Schicksal des Landes just an diesem Tag entscheidet. Die Leute zu überzeugen, an einer solchen Abstimmung teilzunehmen ist so, als wolle man die Fans der englischen Premier League zu einem Fußballspiel zwischen Bolzplatzmannschaften schleppen, am besten noch mit einem gekauften Schiri.

Es ist besser, die Aufzeichnungen der Wahlen vor 30 Jahren anzuschauen als live dieser heutigen Ödnis beizuwohnen.

Klar, wenn es an die Putinwahl 2024 geht, wird es unterhaltsamer. Nicht, dass Konkurrenz auftauchen würde, aber immerhin werden die Fernsehleute halbherzig irgendwelche Shows zusammenschustern mit Titeln wie Heimat in Gefahr! oder CIA gegen Putin!. Doch auch ein solcher Rummel wird den Wähler kaum motivieren, persönlich am Zettel-in-die-Urne-Werfen teilzunehmen.

Viertens ist die Abstimmung auch für ältere Leute unglücklich organisiert – für Leute, denen total langweilig ist und für die der Urnengang mitunter das wichtigste Ereignis im Jahr ist, ein Ritual, das sie an die eigene Jugend erinnert. 
Für große Teile jener Wählerschaft ist die Datschensaison noch nicht abgeschlossen. Die Ernte vom Feld zu holen ist wichtiger, als Urnen mit Wahlzetteln zu bepflanzen. Außerdem zählt genau diese ältere Wählerschaft zur Corona-Risikogruppe. Da die Infektionszahlen wieder steigen, versuchen die Menschen, unnötige Gefahren zu vermeiden. Der Gang zum Wahllokal oder gar die vorzeitige Rückkehr von der abgelegenen Datscha in die von Menschen überfüllten Städte – das ist definitiv ein überflüssiges Risiko. 

Abgesehen von den Wählern, braucht diese Abstimmung eigentlich auch niemand von denen, die sich beruflich mit politischen Ereignissen befassen: 

Journalisten brauchen diese Abstimmung nicht, da sie Nachrichten bringen sollen, aber das Zetteleinwerfen mit vorher feststehendem Ergebnis ist keine Nachricht. 
Soziologen brauchen diese Abstimmung nicht, weil sie nichts darüber aussagt, wer wählt, sondern nur darüber, wer zählt.
Politologen brauchen diese Abstimmung nicht, denn sie finden zwar interessant, wer da zählt, doch das erfährst du nur, wenn du den Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich im Kreml analysiert und nicht den Gang der angeleinten Schoßhündchen zur Wahlurne 
Wirtschaftsexperten brauchen diese Abstimmung nicht, denn allein die Annahme, die Ergebnisse könnten irgendeinen Einfluss haben auf die Wirtschaftspolitik, ruft einzig einen Lacher hervor.

Doch die Abstimmung darf nicht abgeschafft werden. Die amtierenden Autokraten tun so etwas nicht. So wird sie uns so lange begleiten, bis das System zusammenbricht. Und danach werden wir auf seinen Ruinen die gesamte Institution der Wahlen neu errichten müssten. 

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