Droht der Ukraine eine russische Invasion? „Das Risiko steigt,“ warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Wochenende in der ARD. Stoltenberg sagte, er befürchte, dass Russland derzeit einen Vorwand für einen Einmarsch suche.
Am Freitag hatten Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Bevölkerung per Videoansprache zur „Evakuierung“ aufgerufen. Die beiden sind die Chefs der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wo Russland in der Vergangenheit auch massenweise russische Pässe ausgestellt hat. Wie später anhand von Video-Metadaten bekannt wurde, wurden die beiden Aufrufe offenbar schon zwei Tage zuvor aufgenommen – als die Lage vor Ort noch ruhig war. Mitte Februar 2022 hatte die Staatsduma zudem eine Initiative der KPRF verabschiedet, die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängig anzuerkennen. Am heutigen Montag tagt der Sicherheitsrat dazu in einer außerordentlichen Sitzung. Die USA und weitere westliche Staaten warnen bereits seit Wochen davor, dass Russland einen Anlass für einen Angriff auf die Ukraine erfinden wolle.
Beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau sprach Präsident Wladimir Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine. Berichte im russischen Staatsfernsehen verbreiten diese Lesart: Im staatlichen Perwy Kanal erzählte RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan am Wochenende zuvor von angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine und tausenden Kindern im Donbass „ohne Arme und Beine“. Weder UN noch OSZE sehen im Donbass dagegen Hinweise für einen Genozid.
Genozid, Völkermord – die militärische Operation der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 legitimierten viele westliche Politiker damals als eine humanitäre Intervention, die NATO handle aus einer „Schutzverantwortung“ heraus. Derzeit weisen Beobachter immer wieder auf solche vermeintlichen Parallelen zum Kosovokrieg hin – als Russland auf der Seite Serbiens stand: Unter dem Vorwand eines „Genozids“ und einer „Schutzverantwortung“ könnte Russland nun auch die Ukraine angreifen.
Auch in russischen unabhängigen Medien kommentieren Beobachter die jüngsten Ereignisse mit wachsender Sorge. Meduza hat am Freitag außerdem Bewohnerinnen und Bewohner der „Volksrepubliken“ zur aktuellen Lage befragt. dekoder bringt Ausschnitte daraus und aus der Debatte.
Kirill Martynow: Den Krieg heranzüchten
Kirill Martynow, Redakteur der Novaya Gazeta, kommentiert die aktuellen Ereignisse in einem emotionalen Post auf Facebook:
Samstag, der 19. Februar, der Tag vorm Abschluss der Olympischen Spiele, hat Anschauungsmaterial wie aus dem Lehrbuch geliefert für die Entfesselung eines aggressiven Krieges.
Was ist zu tun, wenn niemand Krieg will, du ihn aber dringend brauchst, um ernst genommen zu werden? Ein Schlüsselmoment ist hierbei die Entschmenschlichung des Feindes: Um ein Nachbarland zu überfallen, muss man erst einmal der eigenen Gesellschaft beibringen, dass in diesem Land Unmenschen leben, die eine Un-Sprache sprechen. Belofinnen, Belopolen, Banderowzy – you name it.
Ein Schlüsselmoment ist die Entschmenschlichung des Feindes
Von solchen Unmenschen ist immer und alles zu erwarten, deswegen wundert sich wohl niemand, wenn sie pünktlich, im Moment der Konzentration von zehntausenden mobilisierter Soldaten an ihren Grenzen, einen Tag vor Ende des Sportfestes in China, eine Jagd auf friedliche Bürger beginnen. Am Horizont erscheint ein gekreuzigter Junge von der Größe der Donbass-Gebiete: Um das Bild der unmenschlichen Grausamkeit zu vollenden, benutzt man Freitagabend Waisenkinder aus dem dortigen Kinderheim und bringt sie mitten in der Nacht irgendwohin. Wer bringt Kinder in eine solche Lage? Nur Todfeinde des guten russischen Volkes, Unmenschen.
Pünktlich beginnen an der Grenze zur Russischen Föderation Granaten zu explodieren. Zum Glück gibt es keine Opfer, und woher die Granaten angeflogen kamen, ist auch nicht klar, aber das ist auch nicht wichtig, denn alles ist false flag – ein Täuschungsmanöver. Dazu sind nur die da in der Lage, die Untiere!
Die Evakuierung angesichts eines unsichtbaren Feindes entwickelt sich von allein in eine humanitäre Katastrophe – verbunden damit ist das Abpressen von Hilfsgeldern russischer Staatsbediensteter, die aufgerufen sind, Teile ihres Gehalts für „die Kinder des Donbass“ zu spenden. Zusätzlich wird es zu einem es zu einem Casus Belli, denn wenn den Menschen befohlen wird zu fliehen, dann ist die Lage ja sehr ernst. Für alle Fälle werden parallel dazu Männer, die in der Donezker und Luhansker Volksrepublik leben, unter dem Vorwand der Mobilmachung als Geiseln genommen – vielleicht töten die Unmenschen einige von ihnen.
Der Krieg jedoch will einfach nicht beginnen, weil ihn immer noch niemand will, aber man muss ihn heranzüchten, ihm auf die Beine helfen, ihn mit Geld füttern und mit Propaganda aufblasen
Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
In Donezk explodiert als erstes ein oller UAZ und wenig später stellt sich heraus, dass mit diesem Nummernschild bis vor Kurzem ein anderes, neueres Fahrzeug unterwegs war. Der hinterlistige Feind hat wohl vor dem Terroranschlag den neuen Geländewagen gegen den alten getauscht: So wirtschaftlich clever konzipiert ist die Operation Mungo-Volte – wie sie in den Metadaten [der Evakuierungsaufrufe] der Chefs der Donezker und Luhansker Volksrepublik heißt, aus denen auch hervorgeht, dass diese Eil-Videobotschaften bereits [zwei Tage – dek] zuvor aufgenommen worden waren.
Aus dem Kommandopunkt wird der Start unserer neusten Friedensraketen verfolgt. Ihren Flug beobachten auch die „harten Nüsse“ [Lukaschenko und Putin – dek]. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass unsere russischen Truppen in einem weiteren Nachbarland so lange bleiben werden, wie es die aufgekommene internationale Anspannung erfordert. Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
Wir sind historisch doch die Unschuld in Person
Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft wächst quasi wie von selbst: In einer Spezoperazija hat die Duma die Bereitschaft erklärt, die DNR und LNR anzuerkennen. Jetzt ist der Sprecher des Parlaments empört, dass das Leiden der Kinder im Donbass westliche Politiker völlig kalt lässt. Die Regierung Kubas beschreibt die Politik des Westens als Hysterie und Provokation.
Dimitri Peskow teilt uns seine historiosophischen Anschauungen mit, nach denen Russland in seiner gesamten Geschichte nie jemanden angegriffen hat. Ich denke, das ist ein seltener Fall, in dem Peskow aufrichtig spricht. Viele Menschen, bei denen Propaganda an die Stelle von Bildung getreten ist, teilen diese Ansicht: Diese Unmenschen an unserer Grenze provozieren uns – wir sind historisch doch die Unschuld in Person.
Die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen
Die Qualität der Inszenierung wirkt, als hätte der betrunkene Chef eines Provinz-Jugendtheaters Regie geführt. Viele glauben ihr nicht, doch die werden dann zu Helfershelfern der Unmenschen und zu Feinden erklärt, und die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen. Beim Rest der Gesellschaft führt der ganz normale Konformismus zu der Haltung, dass der Krieg nun unausweichlich ist: Wir sind die belagerte Festung und müssen den Gürtel enger schnallen. Da muss doch was dran sein, wo Rauch ist, ist auch Feuer, schließlich könnte doch niemand so dreist unser großes Volk belügen und der Kaiser kann doch nicht nackt sein.
Dimitri Kolesew: Humanitäre Krise als zusätzliches Argument und Druckmittel
Dimitri Kolesew fasst die Geschehnisse in einem Überblicksartikel auf Republic zusammen – an dessen Ende geht er auch auf die Warnung von US-Präsident Biden ein, dass Russland plane, die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen:
Die ausgerufene Evakuierung wirkt bislang eher wie der Teil einer Informationskampagne, die Russland im Konflikt mit dem Westen und der Ukraine braucht. Derzeit ist eher zweifelhaft, ob aus DNR und LNR tatsächlich große Flüchtlingsströme zu erwarten sind, für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es aber reichen.
Die Frage ist, warum es notwendig ist, die Situation auf diese Weise anzuheizen. Die Vereinigten Staaten erklären nach wie vor, dass Russland eine kriegerische Invasion in die Ukraine vorbereitet, wobei sogar damit zu rechnen sei, dass sie bis Kiew vordringen wollen. Das ist eines der möglichen Szenarien, doch ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und sei es nur, weil die an der Grenze zusammengezogenen Truppen für eine großangelegte Invasion oder Besatzung nicht ausreichen würden.
Für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es reichen
Realistischer wirkt da schon die Variante eines Einmarschs russischer Truppen in das Gebiet von DNR und LNR, wo Russland de facto bereits vor Ort ist. Womöglich wäre dafür eine Anerkennung der beiden Republiken nötig. Das allerdings würde vom Westen als Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine gewertet werden, hätte harte Sanktionen zur Folge und würde die internationale Lage Russland noch mehr erschweren. Der Nutzen eines solchen Schritts liegt nicht auf der Hand.
Womöglich hat Moskau nun in Reaktion auf die USA, die die Situation mit Erklärungen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion aufgeheizt haben, die Unruhe gesteigert, indem es eine humanitäre Krise simuliert. Das könnte ein zusätzliches Argument und Druckmittel gegenüber Washington und Kiew sein, um Garantien für den Nichteintritt der Ukraine in die NATO und für die Erfüllung des Minsker Abkommens nach russischer Lesart zu bekommen.
Meduza: „Auf uns wartet keiner, nirgends”
Unmittelbar dem Evakuierungsaufruf am Freitag hat Meduza Stimmen vor Ort eingeholt. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus.
„Wir haben schon lange keine Angst mehr“
Jelena, Schachtjorsk
Ich selbst möchte nirgends hinfahren. Auf uns wartet keiner, nirgends – ja, und was ist mit der Arbeit, sowieso klar. Keiner will wegfahren. Die Leute glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Und ich auch nicht: Ihr werdet sehen, es passiert nichts. Da bin ich sicher, Schluss, aus. Wir haben schon lange keine Angst mehr, wir sind an all das schon seit vielen Jahren gewöhnt.
Mir scheint, das ist alles Politik. Russland wollte unsere Republiken anerkennen, dann sagte Putin: „Nein, nein, ich werde nichts anerkennen.“ Jetzt muss man einen Präzedenzfall schaffen. Was werden wir tun, wenn die Ukraine die DNR und LNR angreift? Wir werden die Republiken anerkennen, denn da leben viele unserer Bürger – die, die einen russischen Pass bekommen haben.
Es ist unklar, warum das ausgerechnet jetzt passiert. In den letzten Jahren haben wir friedlich gelebt sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland.
„Ich kämpf auch mit der Mistgabel gegen Ukro-Faschisty“
Denis, Donezk
Meine Familie und ich, wir sind 2014 nirgendwohin geflohen und haben auch jetzt beschlossen, hier zu bleiben. Ich bin 45 Jahre alt, hatte vor kurzem erst einen Herzinfarkt, meine Angina pectoris macht sich bemerkbar, aber wenn es richtig knallt, klar, dann kämpf ich sogar mit einer Mistgabel gegen die ukrofaschisty. Im Kriegsfall ist meine Hauptaufgabe meine Familie und mein Land zu schützen.
Was die tatsächliche Situation vor Ort betrifft, da kann ich sagen, dass das, was sie in der Zombiekiste zeigen, stark übertrieben ist. Es sind bei weitem nicht alle willens wegzufahren. Viele wollen hier weiterhin wohnen bleiben, wie sie auch 2014 geblieben sind.
„Die hätten jemanden aus Hollywood beauftragen sollen“
Jewgeni, Donezk
Ich wohne am Rande der Stadt. Bei uns wurde gestern nur ein bisschen geschossen und heute auch etwas – in der Ferne. Ich glaube, dass die Infrastruktur in der Stadt von den Einheimischen selbst vermint wurde. Mir scheint, sie haben sich nicht einmal viel Mühe gegeben. Die hätten doch jemanden aus Hollywood beauftragen sollen, um es etwas raffinierter zu machen. Einen UAZ im Stadtzentrum in die Luft jagen und behaupten, es sei der UAZ des Polizeichefs gewesen – das ist nicht mal lustig. Ich habe noch nie einen Polizeichef in einem UAZ gesehen. Ich glaube, die DNR-Behörden selbst haben sich das einfallen lassen. Ich glaube an eine Invasion der Ukraine, aber die Ukraine braucht das am wenigsten.
Die Gescheiten – Geschäftsleute, Politiker, Banditen – haben dieses Gebiet 2014 verlassen. Ich blieb und fragte mich, was passieren wird. Für diese Regierung würde ich aber nicht in den Krieg ziehen. Ich werde nicht kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen, weil ich ein anderes Land als mein Heimatland betrachte: Ich wurde als Ukrainer geboren, ich werde als Ukrainer sterben, einen russischen Pass will ich nicht.
„Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“
Alexander, Makejewka
Ich bin Wehrpflichtiger. Jetzt heißt es, dass sie schon von Haus zu Haus gehen und einberufen, bis jetzt ist noch niemand zu mir gekommen. Ich will nicht kämpfen. Ich denke, es muss nicht sein. Die Leute versuchen, ihre Taschen zu füllen und Macht aufzuteilen. Einer braucht ein Amt, ein anderer Geld. An der Macht ist jetzt, wer früher ein Niemand war. Jetzt haben sie Befugnisse und versuchen, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Wer in den Krieg ziehen wollte, ist schon dort. Soldat in der Armee zu sein ist nur eine Verdienstmöglichkeit.
Im Internet vergleichen viele die aktuelle Situation mit 1941 oder 1945. Damals haben die Menschen für ihre Heimat gekämpft, die Deutschen haben angegriffen. Gegen wen soll man aber jetzt Krieg führen? Gegen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? Viele haben Verwandte in der Ukraine. Viele. Wahrscheinlich jeder. Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen.
Die Grundstimmung ist: „Kann uns nicht irgendjemand irgendwo aufnehmen.“ Wenn Russland uns aufnimmt – gut, damit könnten wir leben. Wenn die Ukraine uns aufnimmt, auch gut. Jetzt sind wir in einer Zwischenzone: In Russland scheint es einigermaßen gut zu laufen, auch in der Ukraine ist es ok, nur bei uns wie immer – nicht so richtig.
Weitere Themen
Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?
„Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“