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Die Kirche des Imperiums

Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.

Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.

Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.

Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.

Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.  

Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.

Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.  

Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.

Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.

In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.

Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.

Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.

Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um

1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und

2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.

Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.

Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von der Heiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rom begeistern.

Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.

Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“

Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.

Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?

Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.

Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:

1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.

2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.

Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.

So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.

Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.

Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.

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