Die Brüder Henkin

St. Petersburg, 1990er Jahre. Eine alte Dame stirbt und hinterlässt eine Wohnung mit allerlei Krimskrams. Neben anderem Gerümpel finden die Nachkommen zufällig einige Kästchen mit alten aufgerollten Negativstreifen. Einfache Familienfotos, die eh in alten verstaubten Fotoalben zu finden sind, mutmaßen die Erben zunächst und beachten die Rollen nicht weiter. Außerdem sind die Filme so alt, dass sie beim ersten Antasten zu Staub zu zerfallen drohen. Aus reiner Neugier entscheiden sich die Erben fast zwanzig Jahre später, die Filme doch zu scannen.

Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen – in jeder der in Papier gewickelten Rollen sind einige Filmschnipsel – vier, acht, fünfzehn Aufnahmen, selten alle 36. Der erste Schnipsel ist gescannt und alles wie erwartet: Es sind Fotos des Großvaters, Leningrad, 1920-30er Jahre, Familie, Bekannte, Verwandte … Ab dem zweiten wird es aber spannend – dieselbe Zeit, aber plötzlich: Berlin. Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine ganze Geschichte zweier Städte und zweier Leben, erzählt von zwei Brüdern: Jewgeni und Jakow Henkin.

dekoder veröffentlicht einen Bruchteil dieses Fotonachlasses, einige Aufnahmen zum ersten Mal.

Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther

Die alte Dame, die die Negative aufbewahrte, war Sofia Henkin (1910-1994), die jüngere Schwester von Jewgeni (1900–1938) und Jakow Henkin (1903–1941). Die drei Geschwister stammen aus Rostow am Don, wo sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen sind. Die Erbin Olga Maslova Walther erzählt: „Sofia erinnerte sich an lustige Geschichten, Gedichte, Liedchen und sprach nie darüber, wie dieses glückliches Leben jäh abbrach, wie die Eltern verstarben und welche Ereignisse genau sie zwangen, Rostow am Don zu verlassen.” Sicher ist nur, Ende der 1920er Jahre leben Jakow mit seiner Familie und sie in Leningrad; Jewgeni ist spätestens seit 1926 in Berlin.

Geschichte einer untergegangenen Welt

Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine untergegangene Welt wieder neu, eine äußerst tragische Geschichte, in der vieles noch unklar bleibt und die grundsätzlich aufgearbeitet werden muss. Zwei Städte, Berlin und Leningrad, die beide einst Hauptstädte großer europäischer Reiche waren, die beide im Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise bittere Niederlagen erlebten, entwickeln sich schrittweise zu Metropolen zweier totalitärer Regime. In die Bilder dringt oft unauffällig diese Realität ein, die beiden Brüdern zum Verhängnis wird und beide Länder in einen weiteren Krieg führt.

Das alles wissen weder die Fotografen noch die Menschen, die fotografiert werden. Die dargestellte Welt ist von einer besonderen Atmosphäre, von scheinbarer Leichtigkeit des Daseins, von Sinnlichkeit und Freude gekennzeichnet, wie sie die hunderte, meist anonymen Gesichter auf den Fotos widerspiegeln.

Beide Brüder waren keine hauptberuflichen Fotografen. Jakow war Wirtschaftsingenieur, Jewgeni studierte Schiffsmaschinenbau an der Technischen Universität Berlin und arbeitete danach als Musiker. Trotzdem zeugen die über 7000 Fotografien aus dem Nachlass der Brüder von ihrer großen Begeisterung für dieses Medium sowie von ihrer außergewöhnlichen fotografischen Begabung, die weit über die Grenzen der Amateurfotografie hinausgeht. Beide fotografierten hauptsächlich privat, bekamen aber immer wieder Aufträge, vor allem was die Dokumentation von Sport- und Massenereignissen anbelangte.

Stummfilm ohne Untertitel

Hunderte und tausende Gesichter machen den gesamten Fotobestand zu einem Gruppenportrait vor dem Hintergrund eines Zeitalters. Manche – zufällige Passanten, Bauarbeiter, Marktverkäufer – erscheinen nur einmal, um dann in Vergessenheit zu geraten. Einige tauchen mehrfach auf und erzählen kleine Geschichten – von einem Pionierlager bei Leningrad, vom Berliner Zoo, von Autorennen, Demonstrationen, Restaurants oder von einem Brand. Wenige Gesichter nur kommen immer wieder vor, werden zu lebendigen Protagonisten mit persönlichen Eigenschaften und schaffen ganze Sujetlinien.

Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther

Zu diesen Menschen zählen nicht nur Familienmitglieder wie Sofia Henkin oder Jakows Ehefrau Frida, die namentlich bekannt sind. Da sind auch Freunde und Kollegen, wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin, mit denen Jewgeni zusammen einen Thereminvox baut, oder die Musiker, mit denen Jewgeni auf verschiedenen Bühnen auftrat, wie etwa im Konzerthaus Clou in Berlin-Friedrichstadt. Oder auch Lebensgefährten, wie eine schöne Berlinerin, mit der Jewgeni Ruderboot fährt, im Wald spazieren geht, verschiedene Veranstaltungen oder Freunde besucht.

Wenn man sich lange mit diesen Fotos beschäftigt, bekommt man das seltsame Gefühl, dass all diese Leute alte und gute Bekannten seien, die aber keine Stimme und keine Namen haben. Wie ein Stummfilm ohne Untertitel.

Bemerkenswert sind die vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen in den Bildern der beiden Brüder, obwohl die Aufnahmen völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Beide scheinen sich für ähnliche Themen zu interessieren und verwenden vergleichbare Kompositionsprinzipien, so dass es nicht immer einfach zu sagen ist, wer genau welche Fotos aufgenommen hat, und manchmal weiß man auf den ersten Blick auch nicht wo: Ist das Berlin oder Leningrad?

Hauptthemen sind Portraits von Frauen und Kindern, Freunden und Bekannten, Straßenszenen, Massen- und Sportveranstaltungen, Tiere, Autos und Landschaften. Viele davon wurden nicht einfach spontan aufgenommen, sondern häufig unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen, etwa das Motiv Mutter mit Kind, sorgfältig ins Bild gesetzt.

„Es lebe der große Stalin“

An dem von ihnen fotografierten, brodelnden Leben nehmen beide Fotografen aktiv teil (manchmal lassen sie sich auch von anderen fotografieren, so dass sie auf einem Filmabschnitt sowohl Fotografen als auch Fotografierte sind), die Entwicklung zweier totalitärer Regime betrachten sie etwas aus der Ferne. Scheinbar auch ohne große Angst, eher mit Neugier. Jewgeni geht mit Freunden durch Berlin spazieren und stolpert plötzlich über eine Anzeige auf der Litfaßsäule mit dem Aufruf „Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Kauf nicht beim Juden!”. Er holt seine Kamera, macht ein Foto und geht weiter. Ein anderes Mal nimmt er die NS-Militärparade entlang der Straße Unter den Linden auf oder das Wahl-Transparent „Für den deutschen Sozialismus“ auf der Pariser Straße. Aber das alles geschieht nur unter anderem, nebenbei.

Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)Auf den Fotos von Jakow sind die Stalin- und Lenin-Portraits in einem Stadion zu sehen, manchmal auch nur an der Seite des Fotos, die riesige Aufschrift „Es lebe der große Stalin“ oder eben die Parade bewaffneter Sportler. Ob er den sozialistischen Optimismus der Stalinzeit teilte, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn, war es spätestens 1937 damit vorbei.

Erstaunlicher als die Gemeinsamkeiten in den Bildmotiven sind die Parallelen im tragischen Schicksal der Brüder. Jakow Henkin, der das ganze Leben in Russland verbrachte, fiel 1941 unter deutschen Kugeln an der Leningrader Front. Sein Bruder Jewgeni, dessen Leben über viele Jahre hindurch eng mit Deutschland verbunden war, musste als Jude 1936 das Land verlassen, wurde aber im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, in Leningrad als deutscher Spion vom NKWD verhaftet und nach wenigen Wochen erschossen. Sein Status als „Volksfeind“ löschte seinen Namen aus der Familiengeschichte. Sofia Henkin wusste von seiner Verhaftung, doch es gelang ihr nicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Später vermied sie es, darüber zu sprechen.

Beispiel reiner Fotokunst

Entdeckt wurde der Fotobestand erst 2012, als keiner mehr gefragt werden konnte. Sofias Erbin Olga Maslova Walther gründete 2016 die NGO Henkin Brothers Archiv mit Sitz in Lausanne und konnte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg begeistern, diese Fotos in einer Sonderausstellung zu zeigen. Die Schau, die es im Sommer 2017 in die Bloombergs Liste der zehn besten Ausstellungen weltweit geschafft hat, verwurzelte die Fotos nicht nur im historischen, sondern auch im künstlerischen Kontext. Der Fotograf Dmitry Konradt, der den Fotobestand 2012 entdeckte, sieht die Fotos nicht nur als historische Quelle, sondern als „ein Beispiel reiner Fotokunst. Und geboren ist sie nicht aus dem Bestreben, Kunst zu machen, sondern ausschließlich dank der Begabung der Fotografen“.

Berlin, Foto – Jewgeni Henkin

Berlin, Foto – Jewgeni Henkin

Leningrad, Foto – Jakow Henkin

Berlin, Foto – Jewgeni Henkin

Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)

In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)

In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia HenkinLeningrad, Foto – Jakow HenkinLeningrad, Foto – Jakow HenkinBerlin, Foto - Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)Leningrad, Foto - Jakow HenkinBerlin, Foto - Jewgeni HenkinLeningrad, Foto – Jakow HenkinLeningrad, Foto – Jakow HenkinLeningrad, Foto – Jakow HenkinBerlin, Foto – Jewgeni HenkinLeningrad, Foto – Jakow Henkin

Berlin, Foto – Jewgeni HenkinBerlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut

Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina

Text: Leonid A. Klimov
Fotos © Olga Maslova Walther /  Henkin Brothers Archive

Veröffentlicht am 08.02.2018

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