Debattenschau № 64: Putins Wahlsieg

Russland hat gewählt, der neue Präsident ist, wie erwartet, der alte: Wladimir Putin. Er ist für weitere sechs Jahre gewählt, 2024 wäre er damit faktisch ein knappes Vierteljahrhundert an der Macht.

Das vorläufige offizielle Ergebnis, das die Zentrale Wahlkommission meldet, lautet: 76,69 Prozent der Stimmen gingen an Wladimir Putin (s. die dekoder-Infografiken zur Wahl), in einzelnen Wahlbezirken fuhr er über 90 Prozent der Stimmen ein, etwa auf der Krim, die 2014 an Russland angegliedert worden war.
 
Besonders wichtig für den Kreml war die Wahlbeteiligung, die Putins Macht eine größere Legitimatität verschaffen soll. Während sie am Wahlabend lange auf rund 60 Prozent hochgerechnet wurde, lag sie nach weiteren Auszählungen schließlich bei rund 67,49 Prozent.
 
Was sagen die hohen Prozentwerte aus – gerade auf der Krim? Zeigt die Wahl eine große Beliebtheit Putins – oder vor allem die immer autokratischeren Züge des Systems? dekoder bringt Ausschnitte aus russischen Medien-Debatten nach der Wahl.

Komsomolskaja Prawda (Radio): Bedingungsloser Sieg Putins

Ex-Premier Sergej Stepaschin zieht im Radio-Interview mit Komsomolskaja Prawda eindeutige Schlüsse aus dem Wahlergebnis:

[bilingbox][…] Es ist ein bedingungsloser Sieg Putins. Genauer gesagt: Nicht einfach ein Sieg, sondern ein lautstarker Sieg mit einer solch hohen Unterstützung des Volkes. Das ist sein bestes Ergebnis. Um so mehr, weil niemand sagen kann, dass irgendwer, so wie 1996, mit irgendwas die Urnen aufgefüllt hätte. […]
Das Wichtigste ist, dass der Präsident die Unterstützung von über 50 Millionen Bürgern bekommen hat. Nun kann niemand mehr behaupten, der Präsident hätte keinen Rückhalt in der Gesellschaft. Das ist die Unterstützung von quasi dem gesamten aktiven Teil des Landes.~~~[…] безоговорочная победа Владимира Путина. Точнее, не просто победа – а оглушительная победа, с таким высоким уровнем поддержки народа. Это его лучший результат. Тем более, что никто не скажет, как это было в 1996 году, что кто-то чего-то набросал в урны. […]
Главное, что президент получил поддержку более 50 миллионов граждан. Вот теперь уже никто не скажет, что президент не имеет опоры в обществе. Это поддержка практически всей активной части страны.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

Republic: Entpolitisierung der Gesellschaft

Ganz anders interpretiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Republic die hohen Zustimmungswerte für Putin:

[bilingbox]Der Kreml hat […] einen offensichtlichen Bedarf nach Entpolitisierung der Gesellschaft. Die Gesellschaft soll sich automatisch auf Seite der Staatsmacht befinden, bei deren Konfrontation mit äußeren Gegnern. […] 
Aber wenn alle für Putin sind, heißt das, dass keiner für Putin ist. Die auf ein historisches Maximum gebrachten Zahlen formaler Loyalität verlieren ihre politische Aussagekraft: Staatsmacht und Gesellschaft sind gleichermaßen interessiert daran, sich gegenseitig zu ignorieren. Das wird offenbar zum Idealzustand unserer und derer Existenz für die nächsten Jahre.

~~~Очевидная потребность Кремля состоит […] в деполитизации общества – общество должно по умолчанию находиться на стороне власти в ее противостоянии с внешними оппонентами. […] Но если за Путина все, то это значит, что за Путина никто. Доведенные до исторического максимума цифры формальной лояльности просто перестают быть политическим фактором, власть и общество оказываются одинаково заинтересованы во взаимном игнорировании, которое, очевидно, и станет оптимальной формой нашего и их существования на ближайшие годы.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

Novaya Gazeta: Gestärkte Nomenklatura

Nicht Putin – Politologe Alexander Kynew sieht in der unabhängigen Novaya Gazeta zwei ganz andere, eigentliche Gewinner der Wahl:

[bilingbox]Nawalnys Wahlboykott war im Grunde nur eine Möglichkeit, nicht wen auch immer unterstützen zu müssen. Schließlich war völlig klar, dass es für’s Image höchst schädlich ist, einen gescheiterten Kandidaten zu unterstützen. Ausgehend von dem allgemeinen Ergebnis ist der politische Stellenwert Nawalnys höher als der von Sobtschak, Jawlinski und Titow zusammen.Tatsächlich gab es bei diesen Wahlen einen Kampf der alten Nomenklatura um den Erhalt des eigenen Status. Es ging darum, niemand neuen [zur Wahl – dek] zuzulassen, und falls doch, dann eine solche Kandidaten-Karikatur, die am bisherigen Monopol bestimmt nicht rüttelt. Das [die Nomenklatura – dek] waren die wahren Nutznießer der Wahlkampagne, es war nicht mal Putin.~~~Бойкот Навального — на самом деле, лишь способ дистанцироваться от поддержки кого бы то ни было. Ведь абсолютно понятно, что поддерживать провальные кампании с точки зрения имиджа – крайне вредно. Исходя из общих результатов, политический рейтинг Навального выше, чем у Собчак, Явлинского и Титова вместе взятых.

На самом деле на этих выборах шла борьба старой номенклатуры за сохранение своего статуса. Задача была не допустить никого нового, а если и допустить, то такого карикатурного кандидата, который точно не помешает ее прежней монополии. Они были истинными бенефициарами кампании, даже не Путин.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

Facebook: Was ist mit den Nicht-Wählern?!

Den bekannten Journalisten Alexander Morosow beschäftigen auf Facebook ganz andere Zahlen:

[bilingbox]Eine einfache Frage, über die niemand nachdenkt: Warum ist ein Drittel der Bürger (nennen wir sie „Wähler“ unter Vorbehalt) wieder nicht zur Wahl gegangen? Und das, wo doch die Heimat in Gefahr, der Westen im Vormarsch und Konsolidierung gefragt ist? Ein Drittel! In absoluten Zahlen sind das um die 40 Millionen Menschen [nach aktuellem Auszählungsstand haben knapp 36 Millionen Menschen nicht an der Wahl teilgenommen – dek]. Warum gehen die nicht wählen?

Erstens stellt sich die Frage: Gibt es die überhaupt? Vielleicht sind das irgendwelche Senioren, die schon längst von skrupellosen Immobilienmaklern aus der Stadt in irgendwelche abgeschiedenen Dörfer umgesiedelt wurden? Vielleicht liegen sie auch bereits unter der Erde? Oder die 40 Millionen sind so tief im Suff versunken, dass sie gar nicht wissen, dass die „Krim unsere“ ist, vielleicht schauen sie schon vier Jahre kein Fernsehen mehr, weil sie den [Fernseher – dek] zum Pfandleiher gebracht haben?

Oder wollen die 40 Millionen mit ihrem Nicht-Wählen etwas sagen? Und was? Worüber die unzufrieden sind – keine Ahnung. Und warum fragt niemand in einem solchen Fall? Das ist doch spannend! Wer sind diese Leute, was machen sie, wo sind sie?~~~Вот простой вопрос, над которым никто не задумывается. а почему треть граждан („избирателей“, назовем их так условно) опять не пришла на выборы? причем, в условиях, когда родина в опасности, Запад наступает и требуется консолидация? Треть! В абсолютных цифрах – это около 40 млн человек. Почему они не ходят? Во-первых, встает вопрос: а есть они вообще? Может быть, это какие-то старики, которых давно уже черные риэлторы переселили из города в глухую деревню? и они там околели уже? Или это 40 млн человек, которые в таком запое, что даже не знают, что „Крым наш“, не смотрят телевизор уже четыре года, потому что уже снесли его в ломбард? Или эти 40 млн что-то хотят сказать своим „нехождением“. А что? Чем они недовольны, непонятно. И почему никто не спросит, в таком случае. Это же интересно! Кто эти все люди, чем они занимаются, где они?[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

Izvestia: Kein Populismus

Politologe Dimitri Orlow dagegen sieht in der kremlnahen Izvestia konkrete Versprechen für die Zukunft als einen Grund für den Sieg Putins:

[bilingbox]Die umfangreiche Arbeit, die der Präsident mit der traditionellen „Putinschen Mehrheit“ verrichtet hatte, hat Früchte getragen. Eine wichtige Rolle spielte der direkte Umgang der Staatsführung mit den Wählern vor Ort.[…]
Das im Vorfeld der Kampagne breit diskutierte „Zukunftsbild“, das von den Wählern positiv aufgenommen wurde, ist kein Populismus, sondern ein konkreter Vorschlag der Staatsmacht zur Lösung von Problemen, die die Schlüsselgruppen der Wähler betreffen. Dabei hat die Staatsmacht keine schnelle Lösung versprochen, sondern ein konkretes Arbeitsprogramm.~~~Принесла плоды масштабная работа, которую провел президент с традиционным «путинским большинством», большую роль сыграло прямое общение главы государства с избирателями на местах. […] Широко обсуждавшийся в преддверии нынешней кампании «образ будущего», который был позитивно воспринят избирателями, — не популизм, а конкретные предложения властей по решению проблем, касающихся ключевых групп избирателей, не обещания быстрого результата, а планы реальной работы.[/bilingbox]

erschienen am 20.03.2018

Carnegie.ru: No Future

Auf dem Online-Portal des Thinktank Carnegie dagegen, kritisiert die Politologin Tatjana Stanowaja die bisherige offizielle Rhetorik gegenüber den Wählern als wenig zukunftsorientiert:

[bilingbox]Die einfachste Erklärung dafür, warum die Bevölkerung sich in Warteschlangen einreihte, um für Putin zu stimmen, sind aus heutiger Sicht die angespannten geopolitischen Rahmenbedingungen, die Logik der belagerten Festung. […] Der wichtigste Fehlschluss der Staatsmacht bei der Interpretation der Wahlergebnisse besteht darin, dass sie die vollendete Legitimation der Vergangenheit mit einer Carte blanche für die Zukunft verwechseln. Dieselbe Zukunft, über die die Staatsmacht mit der Gesellschaft nicht diskutieren konnte und wollte. Stattdessen hat die Staatsmacht die Gesellschaft vollends zur Geisel des wachsenden geopolitischen Chaos gemacht.~~~На сегодня самым простым объяснением того, почему население выстроилось в очереди, чтобы проголосовать за Путина, стало влияние напряженного геополитического фона, логики осажденной крепости. […] Ключевая ошибка власти в интерпретации итогов выборов заключается в том, что они подменяют свершившуюся легитимацию прошлого народным карт-бланшем на будущее. То самое будущее, о котором власть не захотела и не смогла говорить с обществом, окончательно отведя ему роль заложника нарастающего геополитического хаоса. [/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

TASS: Dank an den Westen

Die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa spielt auf die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen an, etwa die Anschuldigungen im Fall Skripal, wenn sie laut staatlicher Nachrichtenagentur TASS sagt:

[bilingbox]Abgesehen natürlich von all den politischen Aspekten, möchte ich sagen, dass sich unser Volk in schwierigen Zeiten immer vereint. Deshalb gilt ein riesen Dank gewissen Führungspersonen gewisser westlicher Staaten – ich werde keine Namen nennen –, die ebenfalls eigene positive Beiträge geleistet haben und dabei behilflich waren, unser Volk zu konsolidieren und zu vereinen.~~~Помимо, конечно, всех тех политических аспектов, я хочу сказать, что, знаете, наш народ всегда объединяется в трудные минуты. Поэтому большое спасибо некоторым лидерам, не буду называть, некоторых западных государств, которые тоже внесли свою положительную лепту, содействовали консолидации и объединению нашего народа[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

RIA FAN: Krim wählte Russland

Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA FAN zitiert den skandalumwitterten Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki, der das Wahlergebnis auf der Krim kommentiert:

[bilingbox]Die Position des Westens, die Präsidentschaftswahl auf der Krim nicht anzuerkennen, hat nichts mit der Realität zu tun. Das Wahlergebnis von Wladimir Putin auf der Halbinsel, mehr als 90 Prozent der gewonnenen Wählerstimmen, spricht für sich. Die Krim wählte Russland. Die Krim wählte Putin und nicht Poroschenko. ~~~Позиция Запада о непризнании выборов президента в Крыму не имеет ничего общего с реалиями. Результат Владимира Путина на полуострове, более 90% в его поддержку, говорит сам за себя. Крым выбрал Россию, Крым выбрал Путина, а не Порошенко.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018

Krym.Realii (Radio Svoboda): Anomale Territorien

Auf Krym.Realii von Radio Svoboda erklärt Politologe Iwan Preobrashenski, warum er den hohen Werten auf der Krim nicht traut: 

[bilingbox]Wenn die Wahlbeteiligung in einer Region den Landesdurchschnitt erheblich übersteigt, können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass es sich um „anomale Territorien“ wie Tschetschenien oder Dagestan handelt, wo eigentlich niemand die tatsächlichen Wahlergebnisse kennt. Grund dafür sind die vielfachen Wahlfälschungen, die bei den Bezirkswahlkommissionen beginnen und sich über die gesamte Vertikale ausbreiten, wo jeder Vorgesetzte versucht, sich so eifrig wie möglich anzudienen und dem Haupt-Kandidaten Stimmen zuzuschanzen. ~~~Если явка серьезно превышает среднероссийскую, то с большой долей вероятности мы можем говорить, что это «аномальные территории» типа Чечни или Дагестана, где реальных результатов выборов на самом деле не знает уже никто. Потому что там выборы многократно фальсифицируются, начиная с участковых избиркомов и по вертикали, где каждый начальник старается максимально выслужиться и добросить голосов главному кандидату.[/bilingbox]

erschienen am 20.03.2018

Republic: Denkt an Tunesien

Der Politologe Grigori Golossow warnt auf Republic mit Blick auf den Arabischen Frühling generell vor zu viel Euphorie:

[bilingbox]Wofür stehen Ergebnisse autoritärer Wahlen? Dafür, wofür sie stehen müssen – für Loyalität. Üblicherweise bleibt die Loyalität über die ganze Legislaturperiode hinweg erhalten, und das eröffnet den Spielraum für Propaganda à la „Rückhalt des ganzen Volkes“. Manchmal nehmen Ereignisse eine andere Wende. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass in Tunesien nach weniger als eineinhalb Jahren [nach der Präsidentschaftswahl – dek] eine Revolution stattfand, bei der Ben Ali keine Beschützer und nicht einmal passive Unterstützer fand. ~~~О чем свидетельствуют результаты авторитарных выборов? О том, о чем и должны свидетельствовать, – о лояльности. Обычно лояльность сохраняется в течение всего президентского срока, и это открывает простор для пропагандистской темы о «всенародной поддержке». Иногда события принимают другой оборот. В связи с этим напомню о том, что в Тунисе менее чем через полтора года произошла революция, в ходе которой ни защитников, ни даже пассивных сторонников у бен Али не нашлось.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2018
 

Weitere Themen

Ist was faul an der Kurve?

Exportgut Angst

Die Honigdachs-Doktrin

Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren

Podcast #3: (Kein) Vertrauen in die Demokratie

Bystro #2: Wählen


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: