Debattenschau № 74: Präsidentschaftswahl in der Ukraine

Der Schauspieler und Comedian Wolodymyr Selensky hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Ukraine gewonnen. Über 63 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der Wahl teil, Selensky bekam rund 30 Prozent der Stimmen, Petro Poroschenko etwa 16 Prozent. Damit wird sich der Polit-Neuling dem Amtsinhaber in der Stichwahl stellen. Diese soll voraussichtlich am 21. April stattfinden.

Die Ergebnisse der Präsidentschaftwahlen in unserer interaktiven Infografik

Schon im Vorfeld der Wahl schaute man in Russland gebannt auf den ukrainischen Wahlkampf: Die kremlnahen Medien prangerten unter anderem die angebliche Einmischung des US-Außenministeriums an, viele unabhängige Stimmen betonten demgegenüber, dass insgesamt 39 Kandidaten zur Wahl standen. Die Ukraine hatte also, so der Tenor, eine richtige Wahl – anders als Russland.

Auch nach der Veröffentlichung der Wahlergebnisse ebbt die Diskussion nicht ab. Wer hat für wen gestimmt? Worin unterscheiden sich die Ukraine und Russland? Und was bedeutet die Wahl für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern? dekoder bringt Ausschnitte aus russischen und ukrainischen Medien. 

Ukrajinska Prawda: Ukraine ist nicht Russland

Waleri Pekar, ukrainischer Unternehmer und Mitbegründer der Bürgerplattform Neues Land, kommentiert auf der Online-Plattform Ukrajinska Prawda den Wahlausgang und fragt nach den Hintergründen: 

[bilingbox]Also, was haben wir?

Echte Demokratie ist, wenn die Wahlergebnisse überraschend sind. Wir können uns gratulieren: Die Ukraine ist nicht Russland, die Ukraine ist Europa. 

In den reifen Demokratien gibt es normalerweise einen dominierenden Diskurs, zum Beispiel Migration, oder Wirtschaft, oder Umweltschutz. Bei uns sind drei Diskurse zusammengekommen. 
Diejenigen, für die das wichtigste Phänomen im Leben des Landes der Krieg ist, haben den Oberbefehlshaber gewählt, obwohl sie sich seiner Defizite in anderen Bereichen bewusst sind. Diejenigen, die den Wechsel der politischen Elite für das zentrale Erfordernis halten, haben ein neues Gesicht gewählt, obwohl sie sich seiner Defizite bewusst sind oder auch nicht. Und diejenigen, für die das wichtigste Problem Armut ist, haben die wichtigste Kämpferin gegen die Armut gewählt. 
Die Ergebnisse der Wahl stehen noch nicht fest. Bis jetzt kann man nur eins sagen: Timoschenko hat verloren.~~~Отже, що ми маємо?

Реальна демократія – це коли підсумки голосування є сюрпризом. Привітаймо себе: Україна таки не Росія, Україна – це Європа.
У зрілих демократіях зазвичай на виборах є панівний дискурс: наприклад, міграція, або економіка, або екологія. У нас зіткнулися три різні дискурси. Ті, для кого головним явищем у житті країни є війна, обирали верховного головнокомандувача, усвідомлюючи його недоліки в інших сферах.

Ті, для кого головною потребою є заміна політичних еліт, обирали нове обличчя, усвідомлюючи його недоліки чи не усвідомлюючи. Ті, для кого головне явище – зубожіння, обирали головного борця із зубожінням. Результати виборів ще не визначені. Поки що можна сказати лише одне – Тимошенко програла.[/bilingbox]

erschienen am 31.03.2019, Original

Rossijskaja Gazeta: „Fifty Shades of Grey“

Konstantin Kossatschew, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat, kehrt in der Rossijskaja Gazeta gängige Vorwürfe gegen Russland um: 

[bilingbox]Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs waren durchaus naheliegend. Und das nicht, weil sie einem vorhersagbaren Schema folgen: Im Grunde genommen gibt es in der Ukraine keine politischen Kräfte mehr, der Raum ist von Alternativen gesäubert, die Bürger haben die Möglichkeit zwischen „Fifty Shades of Grey“ zu wählen.

Der Weg in die EU und die NATO wird jetzt als nationaler Konsens ausgegeben. Tatsächlich aber ist die Situation künstlich geschaffen worden über die Staatspropaganda und als Abrechnung mit den Nichteinverstandenen.  
Die Ukraine hat also nicht zwischen Russland und Europa gewählt. Denn ein Kandidat, der gewagt hätte, ein freundliches Wort über unser Land zu sagen, wäre nicht einfach nur einer Hetzjagd ausgesetzt gewesen, sondern hätte zumindest seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt.
Die Ukraine hat nicht zwischen Korruption und dem Kampf gegen sie gewählt – es ist mittlerweile klar, dass es auch beim Maidan nicht darum ging. Und jetzt wird der gewählt, der die Korruption anführt mit einer Rhetorik ihrer Bekämpfung – für die Ohren westlicher Sponsoren.~~~Итоги первого тура были вполне очевидными. И дело не в какой-то предсказуемой схеме: по сути, на Украине не осталось никаких политических сил, пространство зачищено от альтернатив, гражданам предлагается выбирать из „пятидесяти оттенков серого“. Это выдается за общенациональный консенсус по поводу пути страны в ЕС и НАТО, но на деле ситуация создана искусственно усилиями госпропаганды и расправ над несогласными. Поэтому Украина не выбирала между Россией и Европой – ибо кандидат, рискнувший сказать доброе слово про нашу страну, был бы не просто затравлен, но рисковал бы как минимум здоровьем.

Украина не выбирала и между коррупцией и борьбой с нею – уже ясно, что сам майдан был не про это. И сейчас выбирают, кто возглавит коррупцию под риторику о борьбе с нею для спонсорских западных ушей.[/bilingbox]

erschienen am 01.04.2019, Original

The New Times: Dann wählen wir eben nochmal neu

Journalist Iwan Dawydow schreibt auf The New Times, dass die unabhängigen Stimmen in Russland deshalb so neidisch auf die Ukraine seien, weil der Wahlausgang dort – anders als in Russland – unberechenbar sei. Dies sei aber kein Wert an sich, meint Dawydow – es gebe wichtigere Sachen:

[bilingbox]Da hier tatsächlich überall viel über die Ukraine gesprochen wird, erzähle ich jetzt von einem Gespräch, dessen Zeuge ich zufällig wurde. Russen, wie das bei Russen so üblich ist, wollten einen Ukrainer belehren und erklärten ihm, wer denn nun zu wählen sei. Der Ukrainer hatte vor, Selensky zu wählen. Umgehend wurden ihm die Augen geöffnet: „Selensky ist ein Clown“, „Selensky ist eine Marionette von Kolomojskyj“, „Selensky ist ein Agent des Kreml“, „Selensky hat weder politische noch Leitungserfahrung“. […]
Wichtig ist nur die Antwort des Ukrainers: „Nun, wenn er uns nicht gefällt, wählen wir neu“, sagte er ganz ruhig.
Und genau das war bitter. Bitter für Russland. Dieser banale Gedanke ist in unserem Land ganz unmöglich geworden. Die Staatsmacht ist kein Monument. Der Präsident ist ein angestellter Manager und kein ewiges Problem. Die Bürger können einfach loslegen und einen anderen wählen. Und all das ist kein spezielles Wunder. Sondern eine ganz normale, natürliche Sache.~~~Поскольку разговоров про Украину и правда много вокруг, я перескажу один, которому стал случайным свидетелем. Россияне, как это у россиян принято, учили украинца жизни и объясняли, за кого правильно голосовать. Украинец собирался голосовать за Зеленского… Ему тут же открыли глаза: «Зеленский — клоун», «Зеленский — ставленник Коломойского», «Зеленский — агент Кремля», «у Зеленского нет ни политического, ни управленческого опыта». <…>

Важен только ответ украинца. «Ну, не понравится, — переизберем», — спокойно сказал он.

И вот это было обидно. Для России обидно. Эта банальная мысль сделалась на родине какой-то совсем невозможной. Власть — не монумент. Президент — нанятый менеджер, а не вечная проблема. Граждане могут просто взять и выбрать другого. И в этом нет никакого особенного чуда. Обычное дело, естественная вещь.[/bilingbox]

erschienen am 01.04.2019, Original

Izvestia: Zweifel an Legitimität 

Nach jeder Wahl, die in den letzten Jahren in Russland stattfand, wurde der Kreml wegen Wahlfälschungen kritisiert. Nun dreht der staatsnahe Politologe Denis Denissow in der Zeitung Izvestia den Spieß um:

[bilingbox]Unterdessen bewahrheiten sich die negativsten Prognosen bezüglich Wahlfälschung und Verstößen, die diese Wahlen begleiten. Umso interessanter wird es sein, die Aufbereitung und Veröffentlichung des Wahlberichts seitens des wichtigsten Beobachters zu verfolgen: des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE.

Die Legitimität der Wahlergebnisse wird stark angezweifelt. Das heißt, wie beim Chagrinleder, schrumpft auch die Möglichkeit ihrer Anerkennung immer weiter.~~~Между тем оправдываются самые негативные прогнозы относительно фальсификаций и нарушений, которые сопутствуют этим выборам. Тем интереснее будет наблюдать за подготовкой и опубликованием отчета о выборах со стороны основного мониторщика избирательного процесса — БДИПЧ ОБСЕ.
<…>
Легитимность результатов голосования вызывает очень большие сомнения. А значит, как шагреневая кожа, сокращается и возможность их признания.[/bilingbox]

erschienen am 01.04.2019, Original

Echo Moskwy: Putin hat gewonnen

Der Blogger Alexander Gorny argumentiert auf Echo Moskwy dialektisch und macht Putin zum einenden Feindbild:

[bilingbox]Faktisch hat Wladimir Putin die ukrainischen Wahlen gewonnen, obwohl das vielen noch nicht bewusst ist. Putin war der, der all die Jahre die politische Agenda der Ukraine geformt und die Ukraine vor dem Auseinanderbrechen bewahrt hat.
Die ukrainischen Wahlen haben viele aufgeweckt. Alle scharwenzeln um die drei Kiefern und fragen sich, welche die höchste und schönste ist. Kann uns doch völlig egal sein, oder? Wer auch immer gewinnt, die russisch-ukrainischen Beziehungen sind auf Jahrzehnte verdorben, die Krim kommt nicht zurück und der Donbass wird noch noch lange eine Zone der Instabilität bleiben. ~~~По факту на украинских выборах победил Владимир Путин, хотя многие этого еще не осознали. Именно Путин был тем, кто формировал украинскую повестку все эти годы и сшил разваливающуюся Украину.
Украинские выборы возбудили многих. Все бродят вокруг трех сосен и пытаются понять, какая из них выше и краше. Да какая для нас разница? Кто бы не победил, российско-украинские отношения испорчены на десятилетия, Крым не вернется, а Донбасс еще долго будет зоной нестабильности.[/bilingbox]

erschienen am 01.04.2019, Original

Nowoje Wremja: 15 Jahre Diskussionskultur

Witali Ssytsch, Chefredakteur des ukrainischen Mediums Nowoje Wremja, stellt Fortschritte in der Ukraine fest und schaut auf die ehemaligen Nachbarn im Ostblock:

[bilingbox]Heute habe ich verstanden, was für einen langen und beschwerlichen Weg wir in den letzten 15 Jahren gegangen sind. […] Es sind eine Menge an institutionellen Mechanismen entstanden zum Mandatsentzug, zur Kontrolle über die Politiker und zum Machtwechsel. Und eine ganze Kultur der politischen Diskussion und Konkurrenz.
In dieser Hinsicht sind wir in diesen 15 Jahren weit gekommen. Die ehemaligen Nachbarn im Ostblock – so wie Russland, Belarus und Kasachstan – müssen noch einen langen und nicht einfachen Weg gehen. Für den Anfang wäre es nicht schlecht, wenn Lukaschenko, Putin und Nasarbajew zu dritt wenigstens einen einzigen lebhaften und nennenswerten Konkurrenten bekämen.~~~Сегодня понял, какой большой и трудный путь мы прошли за последние 15 лет. <…> появилось множество институциональных механизмов по отзыву полномочий, контролю над политиками и переходу власти. Ну и целая культура политической дискуссии и конкуренции.
В этом вопросе мы далеко зашли за 15 лет. Бывшим соседям по соцлагерю – вроде России, Беларуси и Казахстана – придется пройти очень длинный и непростой путь. Для начала было бы неплохо, чтобы у Лукашенко, Путина и Назарбаева на троих появился хотя бы один живой и значимый конкурент.[/bilingbox]

erschienen am 01.04.2019, Original

dekoder-Redaktion

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