Debattenschau № 82: Lager für politische Gefangene in Belarus?

Am 15. Januar 2021 veröffentlichte die belarussische Initiative Bypol einen brisanten Audiomitschnitt: Eine männliche Stimme spricht dort vom Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, über die Einrichtung eines Lagers mit Stacheldrahtzaun „für besonders Aufsässige“, und darüber, dass man Angreifern eine Lektion erteilen müsse: „Entweder verkrüppeln, verstümmeln oder umbringen.“  

Die Stimme wird dem stellvertretenden Innenminister Nikolaj Karpenkow zugeschrieben. Karpenkow gilt als ausgesprochener Hardliner; als damaliger Leiter der Spezialeinheit GUBOPiK trat er bei Protesten im Herbst des öfteren selbst mit Gummiknüppel in Erscheinung. Im September machten Bilder die Runde, auf denen Karpenkow die Tür eines Minsker Cafés zertrümmert – dort hatten Protestierende zuvor Zuflucht vor den Sicherheitskräften gesucht.

In der nun aufgetauchten Aufnahme spricht die besagte Stimme auch über Alexander Taraikowski, der am 10. August 2020 in Minsk bei den Protesten von der Miliz erschossen worden war. „Ja, Taraikowski, dieser Trunkenbold und Schwachkopf. Er starb natürlich durch ein Gummigeschoss, das seine Brust erwischt hatte.“ Über die Demonstranten sagt der Mann: „Denn eigentlich sind alle, die heute auf die Straße gehen, um bei diesem Schienenkrieg mitzumachen, diejenigen, die Straßen blockieren, die Polizei angreifen, Molotow-Cocktails werfen, auch Terroristen. Das sind überflüssige Menschen in unserem Land.“ Auch Aussagen von Lukaschenko werden in der Aufnahme wiedergegeben. Unter anderem soll der Autokrat von den Sicherheitskräften gefordert haben, dass sie mit den Unruhen fertig werden sollen, „und zwar mit aller Härte“. In Bezug auf den Schusswaffengebrauch, so wird Lukaschenko zitiert, seien OMON und Miliz abgesichert. 

Laut Bypol soll der Mitschnitt, den es auch in einer vollständigen deutschen Übersetzung gibt, im Oktober 2020 bei einem Abschiedstreffen von Karpenkow und Mitgliedern seiner GUBOPiK-Einheit entstanden sein. Das belarussische Innenministerium bezeichnete die Aufnahme nach der Veröffentlichung als Fake. In den Staatsmedien wurde der Mitschnitt indes überhaupt nicht thematisiert. Unter belarussischen Politikern, Journalisten und in der belarussischen Gesellschaft sorgte er für Wut und Entrüstung und entfachte eine Diskussion über die moralische Verkommenheit des Machtapparats Lukaschenko. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
 

Facebook/Dimitri Nawoscha: Alles soll vernichtet werden

Der Belarusse Dimitri Nawoscha ist Mitgründer des einflussreichen russischen Sportportals Sports.ru, das unter anderem auch das Portal Tribuna in Belarus betreibt. Seiner Meinung nach zeigt die Aufnahme schonungslos die Geisteshaltung von Lukaschenkos Helfern.

[bilingbox]Lukaschenko ist es gelungen, eine Bande erstaunlichen Abschaums um sich zu versammeln, die bereit ist, Unbewaffnete zu verstümmeln und zu töten, die bereit ist, nicht nur moralische Grenzen zu überschreiten (hier gab es eh keine Illusionen), sondern auch jedwede Gesetze – sogar die eigenen diktatorischen. Bereit, in dem von den Lukaschisten ausgedachten ‚hybriden Krieg‘ alles Lebendige zu vernichten.~~~Лукашенко удалось собрать под себя банду удивительных выродков, готовых калечить и убивать безоружных, преступать не только через мораль (тут иллюзий особо не было), но и через любые законы – даже свои, диктаторские. Уничтожать всё живое в придуманной лукашистами «гибридной войне.[/bilingbox]

erschienen am 15.01.2021, Original

tut.by/Swetlana Tichanowskaja: Leben oder Konzentrationslager?

Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, sind die Aussagen in der Aufnahme ein Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Abgang bevorsteht.

[bilingbox]Lukaschenko bereitet sich auf seinen Abgang vor. Er weiß, dass sich Belarus mit ihm in einen geächteten Staat verwandeln wird. Er weiß, dass er verloren hat. Die Frage ist nur, was er zurücklassen wird. Und jetzt möchte ich allen am Bildschirm eine Frage stellen, allen, die dieses Video sehen. Es spielt keine Rolle, für wen Sie gestimmt haben oder welche Ansichten Sie vertreten. Es spielt keine Rolle, welche Flagge oder welches Wappen Ihnen gefällt. Ich möchte jedem Belarussen eine Frage stellen: Was haben wir verdient – ein Land zum Leben oder ein Konzentrationslager?~~~Лукашенко готовится к уходу. Он знает, что с ним Беларусь превратится в страну-изгоя. Он знает, что проиграл. Вопрос лишь в том, что он оставит после себя. И сейчас я хочу задать вопрос каждому человеку у экрана, всем, кто смотрит это видео. Неважно за кого вы голосовали и каких взглядов придерживаетесь. Неважно, какой флаг и герб вам нравится. Я хочу задать вопрос каждому беларусу. Что мы заслужили: страну для жизни или концлагерь?[/bilingbox]

erschienen am 15.01.2021, Original

Facebook/Pjotr Kusnjazou: Blick in die dunkle Vergangenheit

Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, fühlt sich durch die Aufnahme an die schlimmsten Zeiten seines Landes erinnert.

[bilingbox]Hier sind nun also die Pläne, im Land ein politisches Konzentrationslager zu errichten – das hat selbst vor dem Hintergrund der bestehenden Realität für enorme Verwunderung gesorgt. So deutlich weht damit der Wind von den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts herüber, dass einen eine Gänsehaut überzieht. Wir ziehen hier Parallelen zum Stalinismus, erfassen Gemeinsamkeiten, während die da diese Gemeinsamkeiten gezielt planen und organisieren. Was heißt hier Stalinismus. Unter Stalin waren die Menschen nicht „überflüssig“ – alle waren gut dafür, den Weißmeer-Ostsee-Kanal zu bauen. „Überflüssige Menschen“ ­– das stammt aus dem Repertoire einer völlig anderen Figur, der all der Lebensraum nicht reichte; „die Überflüssigen“ konnten buchstäblich verwertet werden, was auch gemacht wurde: Goldkronen – auf den einen Haufen, Haare zum Polstern von Möbeln ­auf einen anderen, Organe und Blut für Medizin ­wieder irgendwo anders hin und so weiter. ~~~Но вот планы создать в стране политический концлагерь – это удивило сильно даже на фоне имеющейся реальности. Так чётко повеяло 30-ми годами прошлого столетия, что аж мурашки по коже. Мы тут проводим параллели со сталинизмом, улавливая общие черты, а они в это время эти общие черты целенаправленно планируют и организовывают. Да ладно, сталинизм. При Сталине „лишними“ люди не были – все годились Беломорканал строить. „Лишние люди“ – это из репертуара совершенно другого персонажа, которому все жизненного пространства не хватало, а „лишних“ можно было утилизировать в буквальном смысле, что и делалось: золотые коронки – отдельно, волосы для набивки мебели – отдельно, органы и кровь для медицины – отдельно и т.д.[/bilingbox]

erschienen am 15.01.2021, Original

Telegram/Pawel Latuschko: Befehlsgewalt von oben 

In seinem Statement betont Pawel Latuschko, ein zur Opposition übergelaufener Funktionär und Politiker, die umfassende Macht Lukaschenkos.

[bilingbox]Nach Karpenkows Aussagen wird niemand mehr die geringsten Zweifel haben: Alle Gräueltaten in Belarus geschehen auf Befehl Lukaschenkos und mit seinem Wissen. Er benennt direkt die wesentliche Aufgabe der Miliz – nein, das ist nicht der Schutz des Volkes, sondern der Schutz des Nichtlegitimierten und seiner Familie.~~~После заявлений Карпенкова ни у кого не останется ни малейших сомнений: все злодеяния в Беларуси творятся по приказу Лукашенко и с его ведома. Он прямо называет основную задачу милиции – нет, это не защита народа, а защита нелегитимного и его семьи.[/bilingbox]

erschienen am 15.01.2021, Original

Radio Svaboda: Lenin als absurde Argumentationshilfe

In der Aufnahme bezieht sich die Stimme, die Karpenkow zugeordnet wird, auch auf Lenin. Jury Drakachrust, politischer Kommentator beim Sender Radio Svaboda, weist auf die bittere Ironie dieser Argumentation hin.

[bilingbox]Laut Karpenkow hat „Großväterchen Lenin“ gesagt, dass nur der Staat das Recht hat, Waffen zu benutzen, und dass alle anderen, die sie benutzen, Banditen und Terroristen sind. Die Ironie der Situation besteht darin, dass Karpenkow sich auf eine Person bezieht, die selbst ein prominenter, patentierter Bandit und Terrorist war. Es ist schwierig, in der Geschichte eine andere Figur zu finden, die ähnlich radikal wie Lenin die Tradition, die Sitten, die alte Hierarchie ablehnt – alles, was Herrn Karpenkow angeblich so am Herzen liegt. Herr Karpenkow hat in dieser Hinsicht einfach nichts zu bieten. Absolute, ideale Leere als Ideologie, mit Lenin als Prophet des Bestehenden und der Unveränderlichkeit – eine absurdere und widersprüchlichere Rechtfertigung kann man sich nicht vorstellen.~~~

По словам Карпенкова „дедушка Ленин“ говорил, что право на применение оружия имеет только государство, а все другие, кто его применяет – бандиты и террористы.

Ирония ситуации заключается в том, что Карпенков сослался на личность, которая как раз и была выдающимся, патентованным бандитом и террористом. Поискать в истории другого персонажа, который бы столь радикально, как Ленин, отвергал традицию, обычаи, прежнюю иерархию – все то, что якобы такое дорогое сердцу господина Карпенкова.

У господина Карпенкова нет в этом смысле просто ничего. Абсолютная, идеальная пустота как идеология, Ленин как пророк охранительства и неизменности – нарочно не придумаешь более абсурдного и противоречивого обоснования.[/bilingbox]

erschienen am 15.01.2021, Original

Belorusski Partisan: Für Geld oder Freischein

Lew Margolin, Ökonom und stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei, spekuliert in einem Interview, wer die Aufnahme Bypol zur Veröffentlichung übermittelt haben könnte.

[bilingbox]Das machen natürlich deren Kollegen. Dafür könnte es zwei Gründe geben. Der erste Grund ist möglicherweise der Wunsch, Geld zu verdienen. Es ist die Information durchgedrungen, dass bestimmte Leute Geld für solche Aufnahmen verlangen. Der zweite Grund ist der Wunsch, in der Zukunft eine Art Ablass zu erhalten. Später wird man sagen: Obwohl dieser Mann dort gedient hat, war er in nichts verwickelt, mehr noch: Er hat uns als Kämpfer im Untergrund geholfen.~~~Делают, конечно, их коллеги. А причины могут быть две. Первая причина – возможно, желание заработать. Проходила информация, что кое-кто хочет денег за какие-то записи. Вторая причина – желание получить индульгенцию в будущем. Потом будет сказано: хоть этот человек и служил там, но он ни в чем не замешан и более того, он как подпольщик помогал нам.[/bilingbox]

erschienen am 18.01.2021, Original

dekoder-Redaktion

Weitere Themen

„Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

„Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

„Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

„Wer gehen will, geht leise“


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: