Corona-Politik: Eine einzige Misere

Die frühe Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V hatte im vergangenen Jahr wegen der Missachtung der üblichen Standards hohe Wellen geschlagen – nun prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, ob er nicht bald auch in Europa eingesetzt werden könnte. Eine wissenschaftliche Studie hatte eine Wirksamkeit von über 90 Prozent belegt.
Ein solcher Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene bringt die heftige Kritik an der Corona-Politik des russischen Staates, wie sie etwa Sergej Schelin in seinem Beitrag auf Rosbalt äußert, jedoch nicht zum Verstummen: Intransparenz, inkonsequente Maßnahmen und das In-Kauf-Nehmen vieler Todesopfer – eine Abrechnung.

Die offizielle Haltung Wladimir Putins und seiner Agitatoren zur Covid-19-Situation ist trotz aller Schwankungen vor allem eins: absolut selbstgefällig. Als die russischen Behörden vom Beginn der Pandemie erfuhren, konnten sie das Auftauchen des Coronavirus angeblich sofort bremsen, trafen gewissenhafte Vorkehrungen, schützten dann das Volk mit Social Distancing – und die Katastrophe war angeblich quasi besiegt. Und jetzt, wo sie doch wieder da ist, wehren sie mit sicherer Hand ihren neuerlichen Angriff ab. Von Anfang an und bis zum heutigen Tag läuft in Russland alles besser als „bei unseren Partnern“. 

In diesen schönen Worten steckt kein Körnchen Wahrheit. 

Ende 2020 gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt, abgesehen von ein paar lateinamerikanischen Staaten, in denen die Zahl der Todesopfer [je Tausend Einwohner – dek] aufgrund der Pandemie noch höher ist. 

Die offizielle Statistik der Covid-Opfer ist fast überall unzuverlässig. Daher ist ihr realer Messwert die sogenannte Übersterblichkeit. Für Russland, wo die Sterberate bis zum ersten Quartal 2020 stetig zurückging, ist dieser Messwert als Anstieg der allgemeinen Sterblichkeit von April bis Dezember 2020 im Vergleich zu demselben Zeitraum 2019 definiert.
     

„Die Übersterblichkeit zeigt das wahre Ausmaß der Covid-Pandemie in Russland“ Quelle

Rosstat gibt die Berichte mit extremer Verzögerung heraus, vor allem jetzt. Daher kann die Übersterblichkeit in den neun Covid-Monaten 2020 vorerst nur näherungsweise angegeben werden. Nach Einschätzung des Demografen Alexej Rakscha beträgt sie rund 300.000. Den fragmentarischen Daten nach, die uns trotz der Hindernisse aus den Regionen erreichen, sind fast alle Fälle von Übersterblichkeit auf Covid zurückzuführen.      

Pandemie und Politik

Wie sieht das im Vergleich zu anderen Ländern aus? Schlecht, beziehungsweise sehr schlecht. Auf 1000 Einwohner ist die Übersterblichkeit in Russland 2020 doppelt so hoch wie in den besonders stark betroffenen USA; zweieinhalbmal so hoch wie in Schweden, das sich eine Zeit lang seiner Verharmlosung der Infektion rühmte; siebenmal höher als in Deutschland (für alle diese Länder sind das ebenfalls nur ungefähre Schätzungen).      

300.000 Tote bedeuten, dass im Zeitraum von April bis Dezember 2020 die Sterblichkeit in Russland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf das 1,23-Fache gestiegen ist. Und im November, mit 75.000 bis 80.000 zusätzlichen Todesfällen der schlimmste dieser Monate, auf das 1,55-Fache. Das sind die Durchschnittswerte. In manchen Gegenden des Landes ist es wesentlich ärger. 

Abgesehen davon ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Bezeichnet man ihre Bekämpfung durch unseren Staat als unzureichend, so nennt man einfach eine offensichtliche Tatsache beim Namen. Diese Misere besteht aus mehreren Punkten:

1. Selbstbetrug auf allen Ebenen

Um eine Pandemie zu bekämpfen, muss man zumindest wissen, was passiert. Doch die Chefetage hat bis heute nicht wirklich den Dreh raus, wie man Daten sammelt, nicht einmal für sich selbst. 

Die täglichen Berichte des Rospotrebnadsor mit den Zahlen der Neuinfektionen haben mit der Wirklichkeit meistens überhaupt nichts zu tun. Und die von derselben Behörde auf der Website стопкоронавирус.рф veröffentlichte Sterbestatistik [derzeitiger Stand: rund 77.000 – dek] tut nicht mal so, als wäre sie vertrauenswürdig. So berichtet Rosstat mit mehrmonatiger Verspätung von einer doppelt so hohen Zahl jener, die an oder mit Covid gestorben sind. Doch auch diesen Informationen sollte man nicht mehr Glauben schenken als sonstigen Berichten von Rosstat über Todesursachen in Russland, die seit 2012 an die Vorgaben der Mai-Dekrete angepasst werden.    

Was die Führungsebene angeht, so bezieht sie ihre Informationen aus einem der Öffentlichkeit unzugänglichen, speziell an sie adressierten Monitoring des Gesundheitsministeriums. Diese Zahlen übersteigen die des Rospotrebnadsor um ein Vielfaches, bleiben dabei aber eindeutig unvollständig: Es sind nämlich nur die Zahlen der nach stationärer Behandlung Verstorbenen erfasst, die aus den Regionen gemeldet werden, die diese Zahlen zum Teil bewusst fälschen. 

Innerhalb der Machtvertikale belügt man sich gegenseitig nicht weniger als man die Untergebenen belügt. Über verlässliche Daten verfügt niemand, nicht einmal der Führer.     

2. Das Versagen des Polizeistaatеs

Unser Regime kokettiert damit, dass es angeblich alle Bereiche des Lebens durchdringt und hundertprozentige Kontrolle über die Staatsbürger ausübt.  

In der Politik ist das möglicherweise gar nicht so frei erfunden, obwohl es auch da in letzter Zeit ständig Fehler gibt. Aber als es darum ging, Coronainfizierte und ihre Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu isolieren und ihre Aufenthaltsorte zu tracken, da erlitten die Bespitzelungsverfahren des Regimes sofort Schiffbruch – und das im März, als die Behörden angeblich so gut auf die Abwehr der Pandemie vorbereitet waren.  

Und versucht haben sie es ja. Nur leider erfolglos. Das, was irgendwo in Taiwan wie am Schnürchen läuft, überfordert den russischen Polizeistaat mit seiner millionenschweren Überwachungsmaschinerie offenbar …

3. Die Selbstenthebung des Führers

Fast die gesamte Anti-Covid-Aktivität von Wladimir Putin fand im Frühling statt. Von Ende März bis Mitte Mai hat er sogar ein paarmal in den sauren Apfel gebissen – und sich durchgerungen, kurze Reden an die Nation zu halten. 

Dann wurde verkündet, die Krankheit sei besiegt, und diese These ist bis heute in Kraft.

Als die Herbstwelle der Pandemie begann, die viel heftiger war als die im Frühjahr, hatte sich Putin schon eine andere Rolle ausgesucht: Die Verantwortung wurde entgegen aller unserem System zugrundeliegenden Prinzipien auf Regionalverwaltungsleiter, medizinische Bürokraten und Gesundheitsbehörden abgeschoben.   

Gelegentlich sah das Publikum auf den Bildschirmen, wie der Führer diensteifrigen Berichten lauscht und seinen Untergebenen weise Ratschläge gibt, ihren Vortragsstil verbessert, ohne auch nur für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen oder Fehler zuzugeben. Sogar ein so wirksames PR-Instrument wie die Bestrafung, wenn sich jemand etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wurde sehr selektiv und höchstens auf Ebene regionaler Gesundheitsbehörden angewandt. 

Der Mobilisierungsgrad der Behörden war daher viel niedriger, als möglich gewesen wäre. Ganz zu schweigen von verwirrenden Signalen an die Bürokratie, die darauf hindeuten, dass das Staatsoberhaupt in die Angelegenheiten rund um die Pandemie kaum involviert ist: So mussten sich die Sankt Petersburger Beamten, die versuchten, den Tourismus zum Jahreswechsel einzudämmen, Appelle des Führers an die Russen anhören, öfter mal nach Sankt Petersburg zu fahren. Und die Normalbürger, die zum Tragen von Masken verdonnert werden, sehen, dass ihr Führer immer ohne herumläuft.     

4. Das Rätsel des Frühlings-Lockdowns

Aus heutiger Sicht scheinen die „arbeitsfreien Tage“ (so etwas Ähnliches wie ein Lockdown), die bei uns im Frühling eineinhalb Monate lang galten, irgendwie unlogisch. Für unsere Führung stehen seit Urzeiten wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks. 

Möglicherweise waren da einfach ein paar Zufälle zusammengekommen – Putins Besuch in einem Covid-Krankenhaus (bis heute der einzige), die Erkrankung von einigen seiner Untergebenen und Bekannten, das Vorbild europäischer Länder und die damalige allgemeine Atmosphäre von Ratlosigkeit, die in Panik umschlug.  

Jedenfalls bekamen die durch den Arbeitsstopp Geschädigten um ein Vielfaches weniger finanzielle Unterstützung, als sie hätten kriegen können. Fast alle Verluste wurden dem Volk aufgebürdet. Die strenge Einhaltung dieses Prinzips machte es unmöglich, Betriebe abermals flächendeckend stillzulegen – weder Personal noch Besitzer könnten es sich leisten, ein weiteres Mal auf ihre Einnahmen zu verzichten. 

5. Das Paradox des ausgebliebenen Lockdowns im Herbst

Die zweite Covid-Welle erwies sich als tödlicher als die erste. Während die (anhand der Übersterblichkeit bestimmte) Zahl der Todesopfer im Frühling und in der ersten Sommerhälfte rund 70.000 betrug, waren es von September bis Dezember rund 220.000.  

Ein Lockdown ist, auch wenn regional beschränkt, eine Holzhammermethode, die wahllos verschiedene Interessen trifft. Doch die Praxis europäischer Länder zeigte, dass man auf diese Art Infektionsausbrüche in den Griff bekommen kann. Auch in Russland gab es inzwischen weitaus mehr Gründe für die teilweise Schließung von Unternehmen und Betrieben als im Frühling. 

Allerdings wurde bis mindestens Mitte November fast gar nichts unternommen. Abgesehen von ein paar formalen Gesten, die kaum jemand ernstnahm. 

Für unsere Führung stehen wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks

Die Covid-Leugner, die im Nachhinein das „schwedische Modell“ bejubeln, vergessen seltsamerweise, auch vom Vorgehen unseres Regimes begeistert zu sein. Die Hälfte des Herbstes ging es nämlich durchaus „schwedisch“ vor, und die Signale, die es an seine Untertanen sandte, erweckten den Eindruck, dass bei uns lauter Covid-Dissidenten an der Macht sind.     

In Russland überlagerten sich die Passivität und Gier der oberen Etagen mit der Misswirtschaft der unteren, und das aus der Not entstandene „schwedische“ Szenario hatte bei uns weitaus fatalere Folgen. Die waren so offensichtlich, dass im Spätherbst ein Teil der russischen Regionen doch noch wirkliche Einschränkungen beschloss – in der Regel schlecht durchdachte Maßnahmen, die vor allem Branchen ohne starke Lobby schwer trafen und die eigenen Leute verschonten. Zudem wurde das irrwitzige Prinzip, für entstehende Einbußen nicht aufzukommen, auch jetzt nicht revidiert.  

Trotz der beachtlichen Zahl von Todesopfern in den eigenen Reihen zieht Russlands Führungselite nicht an einem Strang und ist auch kein bisschen von dem Wunsch erfüllt, dem Volk im Kampf gegen die Katastrophe den Weg zu weisen. Dasselbe muss auch über den Herrscher gesagt werden, dessen berühmt-berüchtigte Coolness und Abgebrühtheit in der Stunde der Gefahr plötzlich irgendwohin verschwunden sind.   

Dem Volk bleibt nichts anderes übrig, als auf seine Überlebenskünste zurückzugreifen und auf die Hilfe jenes Teils der medizinischen Versorgungsstrukturen zu hoffen, die das Regime noch nicht „optimiert“, entprofessionalisiert und korrumpiert hat.


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