Bystro #3: Fußball & Gesellschaft

Ein schneller Überblick über die Fußball- und Fankultur in Russland – in sieben Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

  1. 1. Die WM findet dieses Jahr zwar in Russland statt – aber interessieren sich die Russen überhaupt für Fußball? Ist Eishockey nicht viel wichtiger?

    Im Gegenteil, Fußball ist in Russland sehr beliebt, das hat historische Gründe. In den 1920er Jahren wurde der Fußball zum urbanen Massenereignis in Moskau. Bereits in den 1930er Jahren sprachen sowjetische Offizielle vom Fußball als „Spiel des Volkes“ (russ. narodnaja Igra), das sich überall in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreue. 
    Eishockey war damals auch wichtig, stand aber nie in Konkurrenz zum Fußball. Zunächst liegt das an den Spielzeiten der beiden Sportarten, die sich nie überschnitten. Lange war es Usus, dass Fußballspieler im Winter beim Eishockey mitmachten – wie etwa Wsewolod Bobrow, der berühmte Stürmer des Armeesportklubs ZDKA (heute ZSKA) in der Nachkriegszeit. 

  2. 2. Eishockey war zu Zeiten der Sowjetunion international viel erfolgreicher als der Fußball, hatte es also nicht auch mehr Fans?

    Im Kalten Krieg hatte das Eishockey eine andere Funktion als der Fußball. Die nationalen Meisterschaften galten als eher langweilig, da alle Mittel nach Moskau flossen, um eine schlagkräftige Auswahl bei internationalen Wettkämpfen zu haben. Der Fußball hingegen war in allen Sowjetrepubliken beliebt und gerade in der späten Sowjetunion von starker innerer Konkurrenz geprägt. 
    Die große Liebe zum Fußball geht auf die Zeit der großen Derbys der starken Moskauer Mannschaften vor und nach dem Krieg zurück – und die Herausforderung durch Teams aus der Ukraine, Georgien und Armenien in den Jahrzehnten danach. Sie hält sich bis in die Gegenwart, auch wenn es lange – gerade international – wenig zu feiern gab (mit Ausnahme vielleicht der UEFA-Pokalsiege von ZSKA und Zenit, 2005 und 2008).

  3. 3. Man hört viel von Hooligans im russischen Fußball. Warum sehen wir davon (bislang) nichts während der WM?

    Russland hat ein großes Interesse, die Organisation dieses sportlichen Mega-Ereignisses als solide erscheinen zu lassen. Bilder gewalttätiger Exzesse würden diesen Anschein trüben. Referenzbeispiel wäre die Fußball-EM 2016, wo es etwa in Marseille zu Straßenschlachten zwischen englischen und russischen Hooligans kam. 

    Inwiefern neben hoher Ticketpreise, dem Verteilsystem der FIFA sowie dem Sicherheitskonzept der Behörden auch informelle Kontakte zwischen Fangruppierungen und der Politik ursächlich dafür sind, dass es bislang ruhig geblieben ist, ist spekulativ. 
    Für solch eine informelle Einflussnahme gäbe es jedenfalls historische Vorbilder. In den 1980er Jahren übte neben der sowjetischen Miliz auch die Jugendorganisation Komsomol Druck auf die Anführer der Fanbewegung aus. Deren aktuelle Anführer sind den Behörden auch heute bekannt. 

  4. 4. Welche Fankultur gibt’s sonst noch im russischen Fußball?

    Die „Fanbewegung“ (russ. fanatskoje Dwishenije) verbindet Elemente des Teamsupports aus der Ultrakultur, die ausgehend von Italien die Fankultur in vielen Ländern Europas revolutionierte, mit gewalttätigen Praktiken einer ursprünglich von englischen Vorbildern abgeleiteten Hooligankultur. Seit Mitte der 1970er Jahre entstand die Bewegung zunächst zur Unterstützung der großen Moskauer Mannschaft Spartak, bald darauf Dynamo und ZSKA, und weitete sich Ende der 1970er Jahre in andere Städte der Sowjetunion aus. 
    Teamsupport im Stadion, Auswärtsfahrten und Gewalt gegenüber anderen Gruppen und der Miliz (Polizei) verschmolzen zu einer Jugendkultur, die mit und nach dem Ende der Sowjetunion mit erwähnten Einflüssen aus Westeuropa angereichert wurde. Sie sucht sich ihre Vorbilder aber zunehmend in anderen Ländern Osteuropas, beziehungsweise betrachtet sich nun selbst als Vorbild für Fanbewegungen etwa in Deutschland. 

  5. 5. Fans vom FC Zenit haben einen Spruch: „Zenit hat alle Farben außer Schwarz“. Wie sieht es mit Rassismus im russischen Fußball aus?

    Der russische Fußball hat spätestens seit den späten 1980er Jahren ein großes Rassismusproblem. Rassistische Aussagen finden sich bei allen großen Mannschaften der beiden Hauptstädte, von Zenit über ZSKA, Dynamo, aber auch Spartak
    Das Fallbeispiel Spartaks ist besonders interessant, da die Mannschaft in der sowjetischen Nachkriegszeit als multiethnische Mannschaft galt und auch in den Jahrzehnten danach eine sehr diverse Anhängerschaft an sich zog. Spartak verfügte auch in den frühen 2000er Jahren über den breitesten Support. Jedoch zeigte sich auch hier in den Jahren 2007 bis 2012 immer wieder, dass rechtsradikale Einstellungen unter den Anhängern Spartaks weit verbreitet waren. 
    Dieses Problem wird dem russischen Fußball erhalten bleiben, solange es nicht gelingt, Fankultur (Teamsupport, Auswärtsfahrt) und Gewalt konzeptionell voneinander zu trennen, etwa durch die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Fußballkultur.

  6. 6. In Moskau gibt es gleich vier wichtige Fußball-Klubs. Ist die Sportart auch außerhalb der Hauptstädte beliebt?

    Der russisch-sowjetische Fußball entstand als urbaner Zuschauersport in Moskau und Leningrad in den 1920er Jahren. Er entwickelte sich in der späten Sowjetunion weiter – von wichtigen Ausnahmen wie Schachtjor Donezk oder Zenit Leningrad abgesehen – zum Spiel der Republikhauptstädte gegeneinander: Moskau, Kiew, Tbilissi, Jerewan, Minsk … Dabei war der „große“ Fußball aber dank Fernsehübertragungen seit den 1960er Jahren auch außerhalb dieser Städte bekannt und beliebt. 
    Nach dem Ende der Sowjetunion durchlief der nun russische Fußball ein langes Jahrzehnt der Dominanz von Spartak Moskau
    Viele Städte insbesondere aus dem europäischen Teil Russlands haben heute eine Mannschaft in der Premjer-Liga. Doch nach einigen Erfolgen neuer regionaler Herausforderer wie Rubin Kasan (Meister 2008 und 2009), ist die russische Meisterschaft nun wieder fest in der Hand der Moskauer Vereine und Zenit Sankt-Petersburgs, die auch außerhalb dieser Städte über viele Anhänger verfügen.

  7. 7. Ein weiterer Fanspruch lautet: „Liebe deine Mannschaft mehr als Siege“. Was ist für Russen wichtiger, Sieg oder Teilnahme?

    Den Russen als solchen gibt es ja nicht. Das Besondere am Fußball ist, dass er Gemeinschaft erzeugt, während gleichzeitig jeder Einzelne sich seinen eigenen Reim darauf machen kann, was diese Gemeinschaft ausmacht und was sie bedeutet. 
    Wenn man aber generalisieren wollte: Die Teilnahme an sich bedeutet wenig. Entscheidend sind aber nicht nur Siege, sondern auch das Leiden, das viele russische Fußballfans ein Leben lang erdulden, wenn sie ihrer Mannschaft treu bleiben. Das Leiden findet sich bereits im russischen Wort für Fan – „Bolelschtschik“ – man leidet, fiebert für seine Mannschaft. 
    Gleichzeitig formierte sich eine Gemeinschaft in der Sowjetunion und auch in Russland häufig und sehr stark in Momenten des Sieges oder über Erinnerungen an vergangene Siege – mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg als prominentestes Beispiel. Sportliche Siege fügen sich hier ein. Geschichten über den russischen Fußball handeln nie einfach nur von Teilnahme. Es geht um den Sieg, aber es geht auch um das Leid.

*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Manfred Zeller
Stand: 13.07.2018

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