„Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen“

Das Gedicht Verlass nicht dein Zimmer (Ne wychodi is komnaty, 1970) ist wohl eines der bekanntesten Gedichte von Joseph Brodsky. Es ist beliebt, wird viel zitiert und einzelne Zeilen funktionieren in der russischen Sprache schon fast unabhängig vom eigentlichen Inhalt. Trotzdem scheint es auch vieldeutig zu sein und ist nur schwer einzuordnen und zu analysieren: Für die einen ist es ein ironischer und fast satirischer Text, der auf die rechtlosen und ängstlichen Sowjetmenschen in den Kommunalkas abzielt, für andere dagegen ein philosophisches und fast existenzialistisches Gedicht. 

Eine neue Welle fast flächendeckender Bekanntheit erfasste das Gedicht im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns. Die Assoziationen mit Corona sind im Gedicht zu offensichtlich: Es beginnt mit dem Aufruf, das eigene Zimmer nicht zu verlassen und endet mit einem weiteren Appell:

„Barrikadier es / mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.“

Zum 25. Todestag Joseph Brodskys bringt dekoder das Gedicht in einer Neuübersetzung von Alexandra Berlina. 

Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen.
Du hast was zum Rauchen, was willst du noch mit der Sonne?
Draußen ist alles sinnlos, vor allem Glück.
Raus geht’s höchstens aufs Klo, und dann gleich zurück.

Verlasse dein Zimmer nicht, mache nicht den Fehler.
Ruf dir kein Taxi: Der Raum fasst keinen Zähler.
Kommt dein Liebchen herein, höre nicht mal ein Wort
aus dem rosa Maul. Schick sie gleich, noch bekleidet, fort.

Verlass nicht dein Zimmer. Tu so, als hättest du dich verkühlt.
Was kann schon spannender sein als ein Tisch und Stuhl?
Wozu dein Zimmer verlassen, wenn du nach einem Bummel
Unverändert zurückkehrst – oder vielleicht verstümmelt?

Verlasse dein Zimmer nicht, stell das Radio laut.
Tanz Bossa Nova im Mantel auf bloßer Haut.
Auf dem Gang riecht’s nach Kohl und Skiern, Mai bis April.
Du hast viele Wörter geschrieben. Noch eins wäre eins zu viel.

Verlass nicht dein Zimmer. Zeige dich nur dem Zimmer.
Zürnt die Substanz der Form, macht es die Sache schlimmer.
Incognito ergo sum. Nun, wie dem auch sei,
verlass nicht dein Zimmer! Du lebst ja nicht in Versailles.

Sei kein Trottel! Sei einzigartig, wohl oder übel.
Verlasse dein Zimmer nicht! Verlasse dich auf die Möbel,
wachse in die Tapete, ins Zimmer. Barrikadier es
mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.

Joseph Brodsky, 1970
Übersetzerin: Alexandra Berlina
Veröffentlicht am 29.01.2021

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