Völlig losgelöst von der Wirtschaft

Die Statistikbehörde Rosstat hat im Februar die BIP-Zahlen für 2018 bekanntgegeben: Demnach lag das Wirtschaftswachstum 2018 bei satten 2,3 Prozent. Ein Rekord, das höchste Wachstum seit 2012. 
Schnell wurden Zweifel laut: Schließlich war Rosstat zuvor von niedrigeren Werten ausgegangen. Wirtschaftsexperten halten ein Wachstum von 1 bis 1,8 Prozent für realistischer. 
Wie echt sind die offiziellen Zahlen? Andrej Sinizyn kommentiert das russische Wirtschaftswunder auf Republic.

Das Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent ist der Rekord der vergangenen sechs Jahre. Es spricht für einen ernsten Erfolg der digitalen Wirtschaft. Damit meine ich nicht die IT-Wirtschaft, die die russische Autarkie vorantreiben soll, sondern die virtuellen Zahlen, die als einzige bedeutsam für die russische Politik sind und sich immer weiter von der realen Wirtschaft entfernen.

Wirtschaftswunder

Nachdem Rosstat die Zahlen aus unerfindlichen Gründen neu berechnet hatte, betrug das Wirtschaftswachstum plötzlich 2,3 Prozent. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung war in sehr optimistischen Prognosen von 2 Prozent ausgegangen, Experten hatten von 1 bis 1,8 Prozent gesprochen.

Natürlich sehen viele hinter der Revision die Machenschaften des Ministeriums, dem die Statistikbehörde Rosstat seit geraumer Zeit untersteht. Just am Tag vor der Ankündigung des Superwachstums wurde der Chef der Behörde ausgetauscht. In einem Klima, wo das Vertrauen in den Staat völlig fehlt, und die Rechnungslegung undurchsichtig ist, gedeihen Verschwörungstheorien – und mit derartigen Aktionen nährt Rosstat das Misstrauen.

Gewiss muss das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung das Wirtschaftswachstum vor dem Präsidenten und nicht vor dem Volk verantworten. Dem Auftrag des Präsidenten, ein bestimmtes Wachstum zu erreichen (wir müssen ein jährliches BIP-Wachstum von 3,0 bis 3,5 Prozent sicherstellen), muss entsprochen werden. Das heißt, zum ordentlichen Termin müssen Zahlen genannt werden, die zumindest eine positive Dynamik zeigen.

Der Alltag bleibt der gleiche

Die Zahlen, die der Präsident in seinen Ansprachen und Begegnungen mit dem Volk und mit Journalisten nennt, entfernen sich immer weiter von der Realität. Den Bürgern wird bei diesen Zahlen weder heiß noch kalt, drückt sich ihre wirtschaftliche Lage doch objektiv in sinkenden Einkünften aus. Welchen Unterschied macht es also, was der Präsident sagt? Spricht er von einem Wirtschaftswachstum von zehn Prozent, ändert sich im Alltag letztlich nichts. Die Bürger tippen sich an die Stirn und sind wieder bei ihren Alltagssorgen.

Das Auseinanderdriften der offiziellen und realen Wirtschaft hat tiefere Gründe. Nach Meinung einer Mehrheit von Experten ist das Wirtschaftswachstum im Jahr 2018 im Wesentlichen auf die Exporte zurückzuführen. Die steigenden Erdölpreise und die Abwertung des Rubel haben zu diesem Erfolg beigetragen. 
Im Gegensatz zu den 2000er Jahren sickern die Exportüberschüsse heute jedoch praktisch nicht in die übrige Wirtschaft durch, wie Kirill Tremassow, Direktor für Analysen bei Locko-Invest, feststellt. Die Haushaltsdisziplin ist viel strenger geworden, die Regierung macht in Erwartung lang andauernder Sanktionen große Sparanstrengungen. Und die Exporteure ihrerseits investieren viel weniger im Inland und schütten rekordhohe Dividenden aus.

Abhängig von der Elite

In ihrem  Buch Warum Nationen scheitern unterscheiden die Ökonomen Daron Acemoğlu und James Robinson zwischen extraktiven und inklusiven Staaten. In ersteren existieren die militärische Elite und die arbeitende Bevölkerung separat, jedoch voneinander abhängig. Die Elite beschützt das Volk und nimmt dafür Geld von ihm. In den letzteren, den inklusiven Staaten, gibt es keine ständischen Grenzen, die Elite formiert sich nach dem meritokratischen Prinzip, was das Wirtschaftswachstum günstig beeinflusst. 
Der Historiker Alexander Etkind verwendet einen dritten Begriff und spricht bei Staaten mit großer Rohstoffabhängigkeit von superextraktiven Staaten. Dort beutet die Elite die Ressourcen praktisch ohne Beteiligung des Volkes aus und nimmt die politische Rente ein. Bei einem derartigen Modell wird die Bevölkerung überflüssig und ist nicht von ihren eigenen Anstrengungen abhängig, sondern von der Wohltätigkeit der Eliten.

Das schrieb Etkind im Jahr 2013 und seine Theorie ließ sich schon damals auf die russische Situation anwenden. Heute beobachten wir eine Weiterentwicklung der Lage, sie wird augenfälliger: Für Wohltätigkeit hat die Elite kein Geld mehr und die Bevölkerung wird immer nutzloser. 
Übrigens, so schreibt die Zeitung Kommersant, hat auch der Anstieg der Verbraucherkredite einen nicht unbedeutenden Anteil am Wirtschaftswachstum, obwohl die Nachfrage selbst stagniert. Das Wachstum des privaten Konsums hat sich verlangsamt, von 3 Prozent im Jahr 2017 auf 1,9 Prozent im Jahr 2018. Und der Anteil der privaten Konsumausgaben am BIP ist binnen eines Jahres um drei Prozentpunkte gesunken. Die Bürger geraten schleichend in Schuldknechtschaft, was sich positiv in der BIP-Statistik niederschlägt, jedoch die Finanzstabilität bedroht, so die Meinung der Zentralbank.

Der sonderbar anmutende Optimismus mag mit Folgendem zu tun haben: Dass Rosstat die Daten unerwartet nachgerechnet hat, lässt sich neben Verschwörungstheorien auch mit der äußerst schlechten Qualität der Statistik erklären. Es ist längst bekannt, dass föderale und regionale Statistiken nicht übereinstimmen, dass das Zählsystem zuweilen sehr seltsame Formen annimmt und der Staat in letzter Zeit vermehrt die „richtige“ Statistik anfordert. 

Das alles führt zu der Prämisse, dass die Modelle von Rosstat gewissermaßen eine andere Wirtschaft abbilden, die mit der realen nichts zu tun hat. Davon spricht Simon Kordonski, Professor an der Higher School of Economics und wissenschaftlicher Leiter der Chamowniki-Stiftung, oft in seinen Vorträgen: Wir wissen gar nicht, was in Russland vor sich geht, wie die Menschen leben, was sie arbeiten und wie viele es eigentlich sind.

Könnte es sein, dass wir dermaßen wenig über Russland wissen, dass es überlebt und immer weiter überleben wird, ungeachtet der entschlossenen Versuche von oben, es unter die Erde zu bringen?

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