Belarus 2020 – Russland 2024?

Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“

Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus. 

Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.

In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.

Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen

Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:

[bilingbox]Beim belarussischen Protest scheint der Schlüssel zum Erfolg jetzt nicht in Minsk zu liegen, sondern gerade in den kleinen Provinzstädten. Von dort wurden Miliz und OMON abgezogen, um Minsk abzusichern.
Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.~~~Складывается такое впечатление, что ключ от успеха белорусского протеста сейчас оказался не в Минске, а наоборот, в небольших провинциальных городах. Оттуда забрали милицию и ОМОН […] и бросили на укрепление Минска.
В такой ситуации люди там – в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, – могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования. 
Если обнаружится хотя бы два-три города – именно не отдельных участка, а города, – где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
[…] 
Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно. 
Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.[/bilingbox]

erschienen am 09.08.2020, Original

Tian'anmen von Brest

Andrej Loschak: Die Angst besiegt

Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:

[bilingbox]Wissen Sie, was einem sofort auffällt in den zahlreichen Videos aus Belarus, die diese Nacht alle gucken? Die Menschen haben keine Angst mehr. Wenn der OMON aus jemandem Kleinholz machen will, dann laufen die Demonstranten zusammen und verteidigen ihre Leute. Letzten Sommer in Moskau hat die Bestie in Uniform ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Einer warf einen Abfallkübel in Richtung der Bestie, und bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Zweiter hat gar nichts geworfen, und bekam dennoch eine Haftstrafe, damit die anderen gar nicht erst auf den Gedanken kommen irgendetwas zu tun. Sie bekamen ihre Strafen, weil alle dort nur rumstanden und zusahen. Ich stand auch rum und schaute zu.
Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.~~~Знаете, что бросается в глаза в многочисленных видео из Беларуси, которые все смотрят этой ночью? У людей пропал страх. Если ОМОН кого-то начинает пиздить, демонстранты бросаются скопом и отбивают своих. Прошлым летом в Москве зверье в униформе тоже избивало демонстрантов, но никто им на помощь не приходил. Один бросил в сторону зверья мусорную урну, не попал и получил 3,5 года. А кто-то ничего не бросал, но все равно получил – чтоб другим неповадно было. Они и получили, потому что все вокруг стояли и смотрели. Я тоже стоял и смотрел. Возможно, эта смелость приходит, когда ты знаешь, что за тобой – не кучка столичных политактивистов, а вся страна. Думаю, именно так ощущают себя беларусы, вышедшие сегодня на улицы. В конце концов, это почувствуют и парни по другую сторону баррикад – и тогда все, конец усатому. Но ничего, у нас еще есть 4 года, чтобы дойти до состояния беларусов. Уверен, партия и правительство помогут нам в этом. А у беларусов и вправду все может получиться, потому что они победили страх.[/bilingbox]

erschienen am 10.08.2020, Original

Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint

Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:

[bilingbox]Ich habe NIE erlebt, dass Leute derart solidarisch in ihrer Haltung gegenüber dem Staat waren. Das sieht man auch gut daran, wer alles auf die Straße geht: Sogar in den Randbezirken von Minsk gehen die Leute auf die Straße, spontan organisiert, per Mund-zu-Mund-Propaganda statt Internet [das teilweise blockiert wurde – dek], ganze Familien, Mamas, Papas, alte Leute. […]
Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja. ~~~я НИКОДА не видела, чтобы все были настолько солидарны в своём отношении к власти и это очень сильно видно по составу людей на улицах, выходят даже окраины Минска, по интуитивной организации и сарафанному радио вместо интернета. выходят семьями, мамами, папами, пожилые люди 
[…]
Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да. [/bilingbox]

erschienen am 10.08.2020, Original

Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024

Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland? 

[bilingbox]Abgesehen von allem anderen kommt auf Belarus nun das Problem zu, dass die Wahlbeteiligung auf über 100 Prozent steigt. Die haben schon bei der vorzeitigen Stimmabgabe eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent verzeichnet (die vorzeitige Stimmabgabe ist das wichtigste Instrument der Wahlfälschung). Am eigentlichen Wahltag sind die Menschen aber tatsächlich in Massen an die Wahlurnen geströmt. Übrigens, man hört gar nichts davon, dass eine hohe Wahlbeteiligung die unehrlichen Wahlen ja nur legitimiert. […] Warum ist das aber für uns so wichtig? Weil das belarussische 2020 unser 2024 ist. ~~~Кроме всего прочего, в Беларуси сейчас будет та проблема, что явка начнет превышать 100%. Они сперва на своей досрочке (основной инструмент фальсификаций) 40% набросали, а в собственно день голосования народ взял да и пошел. Кстати, что-то не слышно разговоров, как высокая явка легитимизирует нечестные выборы. […] А нам почему всё это важно: потому что белорусский 2020-ый – это наш 2024-ый.[/bilingbox]

erschienen am 09.08.2020, Original

Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters

Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:

[bilingbox]In Belarus schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters. Das letzte wird in Moskau geschrieben werden.~~~В Беларуси прямо сейчас пишут предпоследнюю главу летописи «постсоветского» времени. Последнюю напишут в Москве.[/bilingbox]

erschienen am 09.08.2020, Original

Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?

Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:

[bilingbox]Wenn wir uns jetzt anschauen, was in den Straßen von Minsk und anderen Städten geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass Belarus, das viele hier von oben herab (ich würde sogar sagen kolonialistisch) als Kartoffelrepublik belächelt haben und als Freilichtmuseum der Sowjetzeit –, dass genau dieses Belarus seit zwanzig Jahren Modell steht für Russland. Alle Formen des reifen Autoritarismus sind dort einige Jahre vorher schon aufgetaucht: physische Ausschaltung der Gegner, Vertreibung der westlichen Organisationen, Säuberung der Medien, faktische Verstaatlichung der Wirtschaft durch den herrschenden Clan, Verdrängung von Protesten an die Stadtränder, gepaart mit der Forderung an die Organisatoren, selbst für die Polizei-Begleitung und Auflösung zu zahlen, Umschreiben der Verfassung, Stalins Comeback, totaler Wahlbetrug … außer, dass wir mit der Todesstrafe vorerst in Verzug sind. Und jetzt zeigen uns diese Straßenproteste wahrscheinlich unsere Zukunft – 2024 oder sogar noch früher –, deshalb sind die Ereignisse dieser Nacht und von morgen äußerst wichtig: nicht nur für Belarus, sondern für den gesamten postsowjetischen Raum, für die Schicksalsprognose von Resten des Imperiums.~~~Глядя сейчас на то, что происходит на улицах Минска и других городов, следует помнить, что Беларусь, на которую многие здесь снисходительно (я бы даже сказал колониально) смотрели как на картофельную республику и парк советского периода, […] а — эта самая Беларусь на протяжении двадцати лет была предиктивной моделью происходящего в России. Все формы зрелого авторитаризма появлялись там с опережением на несколько лет: физическое устранение оппонентов, изгнание западных организаций, зачистка СМИ, фактическая национализация экономики правящим кланом, отправка митингов на окраины с требованием организаторам оплачивать их сопровождение и разгон милицией, переписывание конституции, возвращение Сталина, тотальная фальсификация выборов… вот только со смертной казнью мы пока задержались. И вот теперь эти уличные протесты, возможно, показывают нам наше будущее — 2024 или даже ранее — поэтому события этой ночи и завтрашнего дня крайне важны: не только для Беларуси, но для всего постсоветского пространства, для предсказания судьбы остатков Империи.[/bilingbox]

erschienen am 10.08.2020, Original

Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da

Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt: 

[bilingbox]Außer den Silowiki hat Lukaschenko keine Verbündeten mehr und kann auch keine mehr haben. Für die westlichen Staatschefs wird er immer ein toxischer Abfall sein, mit dem man nichts zu tun haben sollte. Aber auch für Putin ist er inzwischen ein unberechenbarer Unmensch. Nicht nur wegen der gänzlich auf antirussische Rhetorik gebauten Wahlkampagne. Sondern auch, weil er die Wagner-Kämpfer festgenommen hat. Putin ist nun gezwungen, ihm lange Erklärungen zu schreiben, wie ein Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Und Lukaschenko verkündet das den Journalisten mit Freude. Die Kreml-Propaganda macht keinen Hehl mehr daraus, dass der belarussische Diktator auf die Nerven geht.
[…]
Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.~~~Никаких союзников, кроме силовиков, у Лукашенко больше нет и быть не может. Для западных лидеров он всегда будет токсичным отбросом, с которым нельзя иметь никаких дел. Но и для Путина он теперь непредсказуемый отморозок. Мало того, что Лукашенко построил всю избирательную кампанию на антироссийской риторике, он еще и боевиков из ЧВК «Вагнер» арестовал. Путин теперь вынужден писать ему длинные объяснительные, как провинившийся школьник, а Лукашенко с удовольствием рассказывает об этом журналистам. Пропаганда Кремля уже не скрывает раздражения в адрес белорусского диктатора.
[…]
Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.[/bilingbox]

erschienen am 10.08.2020, Original

dekoder-Redaktion

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