Was war da los? #4

Das Bild aus der Überwachungskamera des belarussischen Grenzübergangs Kamienny Loh an der Straße nach Vilnius verbreite sich wie ein Lauffeuer in den belarussischen Medien und Social Media-Kanälen. Darauf sah man einen Mann in schwarzer Kleidung, kahlgeschoren, auf einer kleinen Mauer sitzend, den Kopf gesenkt, auf den grauen Asphalt unter ihm blickend. Nur ein paar Meter entfernt: der litauische Grenzübergang, nur ein paar Meter, die diesen Mann in die Freiheit hätten bringen können.  


Mikalaj Statkewitsch am 11. September 2025 im Grenzgebiet des Kontrollpunkts Kamienny Loh zwischen Belarus und Litauen / Screenshot Überwachungskamera gpk.gov.by
Mikalaj Statkewitsch am 11. September 2025 im Grenzgebiet des Kontrollpunkts Kamienny Loh zwischen Belarus und Litauen / Screenshot Überwachungskamera gpk.gov.by

Mikalaj Statkewitsch befindet sich am 21. September 2025, zwischen 15 und 17 Uhr Ortszeit, rund zwei Stunden im Niemandsland zwischen zwei Grenzen – zwischen der Grenze seines Heimatlandes Belarus und der von Litauen, wohin er abgeschoben werden soll. Er ist einer der 52 Gefangenen, die das Lukaschenko-Regime nach einem Besuch des Trump-Gesandten John Coale in Minsk freilässt, darunter rund 40 politische Gefangene. Fast allen nimmt man die Pässe und andere Habseligkeiten ab. Der Philosoph Uladsimir Matskewitsch muss all seine Notizen und Texte aus der Haft zurücklassen. Die Freigelassenen haben keine Wahl, in ihrer Heimat zu bleiben. Sie werden zwangsdeportiert. An der US-Botschaft in Vilnius versammeln sich zu diesem Zeitpunkt dutzende Belarussen, um ihre Liebsten, Freunde und Bekannten in Empfang zu nehmen und Solidarität mit ihnen zu zeigen.  

Statkewitsch ist eine Symbolfigur des jahrzehntelangen Widerstands gegen die Diktatur in Belarus. Zwölf Jahre seines Lebens hat er bis heute hinter Gittern verbracht. Er war bereits im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 festgenommen und im Dezember 2021 zu 14 Jahren Haft verurteilt worden. Bis das Bild an der Grenze auftauchte, gab es fast 1000 Tage kein Lebenszeichen von ihm. „Das letzte Mal sah ich ihn bei einem Kurzbesuch, den wir nach der Berufung am 1. Juni 2022 erhielten“, berichtet Marina Adamowitsch, die Ehefrau des 69-jährigen Oppositionellen, in einem Interview mit Novaya Gazeta Europe. „Seitdem habe ich Mikalaj weder gesehen noch gehört. Die vollständige Isolation begann am 9. Februar 2023 und dauerte zwei Jahre, sieben Monate und zwei Tage.“ 

Was passierte an der Grenze? Als der Bus mit den Häftlingen den litauischen Kontrollpunkt erreicht, steht Mikalaj Statkewitsch auf, eilt zur Bustür, springt hinaus und eilt Richtung Belarus. Denis Kutschinski, diplomatischer Berater im Office von Swjatlana Zichanouskaja, berichtete später: „Man hat ihn aufgehalten, dann war er einige Zeit im neutralen Grenzraum und man hat versucht, ihn zu überzeugen, Richtung Litauen zu fahren.“ Einer derjenigen, die mit Statkewitsch sprachen, war sein langjähriger Weggefährte Jewgeni Wilski. Aber der Oppositionspolitiker hatte seine Entscheidung längst getroffen. „Mikalaj sagte, dass Lukaschenko niemals entscheiden werde, wo er leben solle. Lukaschenko könne sehr wohl über sein Leben bestimmen, aber nicht über seine Freiheit, seine Entscheidungen und seine Werte.“  

Auch Marina Adamowitsch sprach am Telefon mit ihrem Mann. Ihr sei klar gewesen, dass sie ihn nicht umstimmen werden könne. Sie bat ihren Mann zu warten, bis sie an der Grenze eintreffen würde. Sie wolle ihn lediglich umarmen. Dazu kam es nicht mehr. Mikalaj Statkewitsch wurde von zwei Maskierten zurück nach Belarus eskortiert. Mehr als drei Tage war nicht bekannt, wohin man ihn gebracht hatte. Vergangenen Dienstag vermeldete das belarussische Medium Nasha Niva, dass Statkewitsch wieder in Haft sei – in der Strafkolonie Nr. 13 von Hlybokaje im Osten von Belarus. Dort, wo er auch vor seiner Strandung im Niemandsland inhaftiert war.