In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.
Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.
Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe.
Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.
Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“
„Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“
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