Ich sehe das, was in meinem Garten ist

Tania Arcimovich, 1984 geboren, gehört im belarussischen Kulturraum zu den bekanntesten Intellektuellen ihrer Generation. Die Autorin und Theaterregisseurin hat zahlreiche Bildungsprojekte und Ausstellungen kuratiert, sie ist Herausgeberin der Kunst- und Kulturzeitschrift pARTisan/pARTisanka. In ihren Arbeiten ist sie immer wieder bestrebt, belarussische Kulturphänomene und gesellschaftspolitische Ereignisse in ihrer Heimat außerhalb der üblichen Grenzen und Fixpunkte zu deuten und zu interpretieren. So auch in diesem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. In diesem Text fragt sich Tania Arcimovich, was in Belarus im Zuge der historischen Proteste im Jahr 2020 eigentlich passiert ist und was diese politische Mobilisierung für eine mögliche Zukunft ihres Landes bedeuten könnte. Dabei setzt sie nicht auf eine kollektivistische Erfahrung, sondern auf die Entwicklung der individuellen Eigenverantwortung.

Belarussisches Original

„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © ToslaIch möchte von den Geschmeidigen reden. So heißt ein Buch von Nora Bossong, das ich vor einigen Monaten im Buchladen sah, in dem ich blätterte, den Klappentext las und wusste: Das ist mein Buch. Meines, nicht weil es von mir handelt, denn das ist schon wenigstens deshalb unmöglich, weil die Autorin und ich unterschiedliche geografische und kulturelle Ausgangspunkte haben. Doch wir gehören derselben Generation an, sind Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme – nur der jeweils anderen Seite der Mauer. Rückblickend und analysierend, was in den letzten Jahren geschehen ist, sitzen wir beide scheinbar auf den Ruinen unserer Träume und sortieren Steine. Bossong beginnt mit dem Ende einer Ära, und das ist genau das, was auch ich empfinde, wenngleich unsere „Ären“ und ihre „Enden“ sicher verschiedene sind. Oder nicht?
      Das war meine heimliche Absicht – ich wollte beim Lesen des Buches in mich hineinhören, was um mich herum und mit mir geschehen war, ihr Fragen stellen, widersprechen oder zustimmen. Natürlich geht es nicht um die Ereignisse an sich, sondern um deren Wahrnehmung – basierend auf persönlichen Erfahrungen, Ängsten, Traumata, meinem sozialen und kulturellen Körper, der die für ihn vorherbestimmte Biografie ausführen sollte. Oder kann diese Vorherbestimmung durchbrochen werden? Unabdingbar ist es jedenfalls, die Gründe für die bestehende Asymmetrie der Geografien zu verstehen, die meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft bestimmt. Denn wenngleich ich eine Vergangenheit habe und in einer Gegenwart – wie auch immer sie aussehen mag – stehe, so wird mir doch, wenn ich den westlichen Politikern zuhöre, eine Zukunft verwehrt. Auf der Landkarte gibt es mich nicht mehr. 
      „Bei euch ist es doch still“, sagte eine Frau auf der Straße zu mir. „Genau,“ antworte ich, „wie auf dem Friedhof.“ Und dachte bei mir, wie soll man erklären, dass still nicht nur bedeutet, dass nichts passiert, es bedeutet auch den Wunsch, etwas zu hören. Daraus folgt, dass meine einzige Chance auf eine Zukunft wohl ist, in eine andere Haut zu schlüpfen – in eine weißere, in einen anderen Körper, aufgeben, mich anpassen – eine Europäerin werden? „Sie müssen wohl über einen anderen Beruf nachdenken, Philologen werden hier nicht gebraucht.“ Beim nächsten Mal, denke ich, muss ich mich vorbereiten und mir eine fundierte Antwort auf die Frage überlegen, was ich beruflich mache. 
      Vielleicht Gärtnerin?

      Cyanobacteria

      Ich möchte einen Garten anlegen, in dem sechshundertsiebenundvierzig Pflanzen wachsen. Das habe ich nie getan, ich meine, Pflanzen pflanzen, also eigentlich habe ich welche gepflanzt, aber sie sind immer auf meinem Fensterbrett gestorben. Als mir eines Tages auffiel, dass eine Pflanze zu vertrocknen beginnt, habe ich ihr nur beim Sterben zugesehen. Doch die Pandemie hat meine Einstellung grundlegend verändert. Als der März-Lockdown in den EU-Ländern 2020 meine Pläne komplett umgeworfen hatte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich saß in Selbstisolation im Dorf fest und begann zu pflanzen – Sträucher, Gemüse, Zierpflanzen, Blumen. In dieser Zeit entdeckte ich auch Lynn Margulis und ihre Theorie der Symbiogenese, mit der sie jahrzehntelang die Neodarwinisten herausgefordert  hatte, doch erst in den letzten Jahren war ihre Stimme in breiteren Kreisen wahrgenommen worden.
      Der Theorie der Symbiogenese zufolge findet Evolution nicht aufgrund von Konkurrenz oder Genmutation statt, sondern als Ergebnis physischer Zusammenarbeit und Interaktion zwischen unterschiedlichen Arten von Organismen. Somit hat die Evolution nicht beim Menschen geendet, er ist nur eine ihrer Etappen. Wenn sich der Mensch also der Natur entgegenstellen möchte – als höchstes, herrschendes Lebewesen – dann ist das naiv. Bakterien leiten das Ökosystem, sie sind die höchsten Lebewesen, sagt Margulis, denn der Abfall der einen ist die Energiequelle der anderen. Ein geschlossener Kreislauf. Davon kann der Mensch nur träumen. Aber gerade weil es zwischen Mensch und Bakterien viel mehr Gemeinsamkeiten gibt, als wir uns vorstellen – auch wir sind ein Ökosystem – haben wir eine Chance.
      Das Gefühl der Veränderung verstärkte sich nicht nur durch meine persönlichen Erfahrungen. Letztlich war die Pandemie für die belarussische Gesellschaft, wie auch für andere periphere Gesellschaften, kein Schock – denn die Menschen hatten sich noch nie in Sicherheit gefühlt. Wie viele andere stellt auch Nora Bossong fest – und zitiert hier die Wissenschaftlerin Hana Gründler – dass die Pandemie insbesondere „die Unverletzlichkeit der westlichen Welt“ in Frage gestellt habe. Es sei die erste „kollektive Krise“ für ihre Generation gewesen, schreibt Bossong, begleitet vom Verlust des Kontrollgefühls. Doch während in den EU-Staaten die Nachrichten aus anderen Breitengraden ihre Bedeutung verloren – „die Grenzen im Kopf wurden so hoch gezogen wie die der Nationalstaaten“ – las ich sogar in meinem Garten in der tiefsten Provinz sorgsam die Nachrichten aus aller Welt. Die Welt muss sich grundlegend verändern, dachte ich, war allerdings unsicher, ob dies schnell und unter Berücksichtigung der jeweiligen Geografien geschehen würde. Deshalb müssen die, die am Rande sind, wissen, was in der großen Welt vor sich geht. Es gibt die Hoffnung einer echten Wende  – dass diese Zwangspause zum Trigger für eine wirklich radikale Revision der bestehenden sozialen und politischen Systeme und ethischen Normen wird. Daran glaubte ich wirklich, denn die Entledigung von gewohnten Existenzmustern, das Pausieren von allem, – ist das nicht ein Momentum, in dem man sich der wirklichen Bedürfnisse bewusst wird? 
      Das hätte das Ende für Neoliberalismus und Kapitalismus bedeuten müssen, die zwar nicht Teil meiner Erfahrungswelt waren, von denen ich aber wünschte, sie blieben nicht der einzige Ausweg aus dem Autoritarismus, in dem ich lebe. 
      In Belarus begann derweil die Wahlkampagne.

      Wir-Sätze

      Als Jugendliche las ich weder Marx noch Engels, wir sprachen nicht über Politik und gingen nicht zu Demonstrationen. Die Welt endete mit der Grenze des Stadtteils, das Schulwissen war abstrakter Natur. Auch wenn die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, real war das, was vor dem Fenster geschah. Warst du in einer Arbeiterfamilie an der Peripherie geboren, war deine Biografie schon geschrieben. Du musstest sie nur noch still und leise leben. Tschernobyl „gab es nicht“, Umweltkatastrophen „gab es nicht“. Von Konsum wussten wir auch nichts, denn es gab nichts, das in kapitalistischem Sinne hätte konsumiert werden können. Die Generation der Schlüsselkinder und der Tüten in einer Tüte – so nennen uns die Soziologen manchmal. Damit die kleinen Kinder den Schlüssel für die Wohnung nicht verloren, in die sie nach der Schule allein zurückkehrten und bis zum Abend auf die Eltern warteten, hing der Schlüssel an einer Schnur um den Hals. Und Plastiktüten waren immer Mangelware, deshalb wusch und trocknete man sie, um sie sorgfältig zusammengefaltet in einer Plastiktüte aufzubewahren.
      Die Frage der Freiheit stellte sich uns, doch sie war eher universell, es ging um eine innere Freiheit, die geeignet war, die eigene Biografie zu durchbrechen. Teil der großen Welt zu werden, deren Bild sich aus Büchern und Fernsehsendungen speiste, davon träumten wir. Die Ereignisse dieser Zeit – Krieg in Jugoslawien, Putsch in Moskau, Krieg in Tschetschenien, Referendum in Minsk 1996 – all das war unwirklich, jenseits unseres Einflusses, es existierte einfach für sich. Freiheit und Politik gingen getrennt, liefen einzeln nebeneinander her.
      Ich schreibe über mich als Wir, weil auch ich eine Generation wahrnehme – keine der Geschmeidigen, sondern eine der von der Geschichte Isolierten. Damals gab es noch keine Wir-Sätze, eher eine Wir-Masse. Die Sätze kamen erst später auf, verschafften sich während der Pandemie laut Gehör. Denn während für die Bewohner der westlichen Länder eine Atomisierung stattfand, wurden in Belarus, wo die Mehrheit endlich der Gewaltfunktion des Staates gewahr wurde, gerade wir zum Trigger für die Geburt des politischen Willens. Das Alte begann endlich zu sterben, markierte den Beginn einer riesigen Krise, deren Ausgang etwas Neues sein musste. Etwas Neues?
      Wie auch Bossong schreibe ich hier „wir“ und bin mir dabei der Bedingtheit dieser Wir-Sätze bewusst. Wer ist wir? Diejenigen, die nach langer Zeit der Isolation ihr Recht auf die eigene Geschichte realisierten, gleichzeitig aber begannen, sich in ihrer Heimat wie Fremdkörper zu fühlen, da sie schon nach anderen Maßstäben lebten? Oder diejenigen, die bis zur Pandemie vollkommen entspannt in die bestehende autokratische Normalität integriert waren und dabei bewusst von politischen Freiheiten und Rechten absahen? Oder diejenigen, für die erst die Gewalt im Akreszina-Gefängnis, wo die Mächtigen nach den Wahlen 2020 tausende Menschen folterten, das Fass zum Überlaufen brachte? Oder diejenigen, die auch heute noch verbrecherische Befehle ausführen, die Propaganda mittragen, foltern und Verrat begehen? 
      „Nicht alle wollten Teil dieses Wir sein – eines Wir, das sie selbst nicht bestimmt haben“, schreibt Bossong. Umso mehr, da für Politiker – egal ob Nationalsozialisten oder Linke – der Kampf um dieses Wir, um das Recht, in seinem Namen zu sprechen (das wohlbekannte „Wir sind das Volk“), entscheidend bleibt. Und so geschieht es im Moment der politischen Revolution, dass der Wunsch, dieses Wir zu meiden, als Verrat an der Revolution verstanden werden kann. Aber ist das nicht auch eine Art Manipulation? Wenn die Idee im Raum steht, eine neue soziale und politische Struktur (zum Beispiel ohne Parteien und Anführer) zu schaffen, ist es dann nicht auch an der Zeit für neue Strategien? Ich möchte schon jetzt komplex denken und empfehle das allen um mich herum. Doch darauf erhalte ich nur ablehnende Reaktionen, da es in der aktuellen Abwesenheit einer politischen Landschaft – in dieser Wüste, in die sich Belarus verwandelt hat – nicht möglich zu sein scheint, in solchen Kategorien zu denken: „Erst siegen wir, dann kommt die Zeit für politische Programme.“
      Ich will aber nicht warten. 

      Wenn das Alte stirbt

      Im Verlauf ihres Buches bezieht sich Nora Bossong immer wieder auf Antonio Gramscis Idee von der Krise, die demnach darin besteht, dass das Alte gestorben, das Neue aber noch nicht geboren ist und dieser Zwischenraum von bestimmten Krankheitserscheinungen geprägt ist. Darüber hinaus werden gerade in dieser Periode unterschiedliche Wege des Übergangs zum Neuen gefunden. Die zentrale Frage ist dabei die Zeit, denn eine Krise kann dauern, sich hinziehen, der Übergang aber muss stattfinden, denn das Alte ist tot.
      Nora Bossong stellt die Frage nach der Krise der Demokratie, die nicht mehr als die einzige, beste Option wahrgenommen wird, oder, wie die Autorin feststellt, im steten Prozess der Selbstfindung steckt. Was wie eine Niederlage erscheint, ist nur der nächste Entwicklungsschritt. Es braucht Mut, um diesen Krisen zu begegnen und einen Schritt nach vorn zu machen. Nora wendet sich an ihre Generation als diejenige, die gerade an die Macht kommt – langsam, gegen Widerstände, da die grauhaarigen Herren in blauen Anzügen sie noch immer als „Kinder an der Macht“ bezeichnen. Dennoch geschieht es, und damit geht das einher, was die Autorin als Geschmeidigkeit bezeichnet. Ungeachtet ihrer Jugendträume von radikalen Veränderungen, vor allem in Bezug auf die ökologische Verantwortung, geht die Generation der Geschmeidigen Kompromisse ein (Ökologie aber mit Ökonomie). Weil sie als die Erste Veränderungen doch zu Gunsten von Machtbestrebungen opfert? Haben sie sich angepasst? Sind sie nicht bereit, die Privilegien ihres kleinen bürgerlichen Lebens zu verlieren? Ja, antwortet Bossong, auch wir sind bürgerlich geworden, „vielleicht nicht im klassischen Sinne“, aber doch. Zugleich, führt sie fort, kann eine solche Geschmeidigkeit – ein schnelles und kreatives Reagieren – zuträglich bei der Lösung der Probleme sein, die die Gegenwart aufwirft. In Belarus nennen wir das „Wie Wasser sein“. Doch Wasser füllt nicht einfach bestehende Leere und fügt sich dort ein. Wasser ist eine Naturgewalt, die Raum für das Lebendige erobert und dabei alles zerstören kann, was sich ihr in den Weg stellt.
      „Wir waren freier. Aber Freiheit bedeutet auch die Möglichkeit des freien Falls“, schreibt Nora. Auch wir haben von der Freiheit gekostet und begannen zu fallen. Und ich bin bereit, diese Erfahrung zu machen – auch das Fallen will gelernt sein. Ich frage mich allerdings, wie ich das Gleichgewicht zwischen meinem eigenen Erwachsenwerden und der Brutalität der politischen Wirklichkeit finden kann, deren Zeugin ich bin. Wie kann man darüber nachdenken, dass das Alte gestorben ist, wenn die Gewalt wie ein Gespenst weiterhin in Wellen verschiedene Geografien erfasst? Wie mache ich meinen Frieden mit der Idee, dass die Freiheit ihren Preis hat? Warum muss man für das Recht auf Eintritt in eine andere Zukunft mit Menschenleben bezahlen? Hier meine ich nicht den Eintritt in eine komfortable bürgerliche Welt, sondern in eine radikal andere Zukunft – jene, die der Epoche der Herrschaft, der sozialen Ungleichheit und Ausbeutung ein Ende setzt.
      Und damit meine ich auch die Ausbeutung anderer Lebewesen und Ressourcen durch den Menschen.

      Das Ende einer Ära?

      Eine der schmerzhaften Begleiterscheinungen der Pandemie war für die Bewohner der westlichen Welt die Selbstisolation – die Körper verloren aufgrund der Gefahr, die sie füreinander darstellten, die Möglichkeit einander zu berühren, einander zu spüren und sich zu versammeln. Übrigens ist es strittig, ob das Konzept der Versammlung von Körpern als Äußerung des politischen Willens noch immer ein Merkmal der Demokratisierung ist. Gerade die Anzahl der Körper auf den Straßen der belarussischen Städte 2020 wurde zum Indikator (für wen?) des radikalen Wunsches der belarussischen Gesellschaft nach Veränderung. Diese Gebundenheit an Zahlen war mir schon immer unverständlich. Warum braucht es eine Mehrheit, wenn gleichzeitig in zahlreichen internationalen Organisationen eine einzige Stimme ausreicht, um ein Veto einzulegen? Darin sehen viele heute eine Schwäche der repräsentativen Demokratie.
      Das Gegenteil geschah, als im Verlauf des letzten Jahres immer mehr politische Körper der Belarussen von den Straßen verschwanden. Ein Raum wird von Körpern gesäubert – zeugt das von Zustimmung und Unterordnung? Rückkehr zur „Normalität“? Oder doch von Okkupation durch eine illegitime Regierung? Und hier beginnt der freie Fall der westlichen politischen Theorien, denn es geht ja nicht nur darum, dass sie in autoritären, totalitären Staaten nicht funktionieren. Selbst in demokratischen Staaten verlieren sie ihre Funktion, und die Körper auf der Straße, selbst wenn sie ihren politischen Willen kundtun können, haben keinen realen Einfluss. Das ist das Ende der Agora als schöner Idee. Doch Bossongs Generation kann im Unterschied zu uns wenigstens sagen, dass sie es versucht hat. Und wir? Die Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme auf der anderen Seite der Mauer? Wir sind nicht weiß genug, nicht schwarz genug, wir haben keinen imperialen Mythos im Rücken, und der koloniale interessiert niemanden. 
      In Lynn Margulis’ Schilderung, wie es ihr als junger Forscherin gelang, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, beschreibt sie die Frau als „periphere Visionärin“. Gerade also die Tatsache, dass sie sich „am Rande“ der von Männern dominierten Wissenschaft befand, erlaubte ihr einen anderen Blick auf das Gewöhnliche. In diesem Sinne haben alle, die „zwischen“ verschiedenen Systemen groß geworden sind und isoliert von der großen Geschichte waren, ebenfalls einen Vorteil. Auf Krisen vorbereitet, sehen wir diese Unzulänglichkeiten. Glaubt ihr wirklich, dass eine grüne Wirtschaft durch Verlagerung von Fabriken und Müll in ärmere Länder erreicht werden kann? Oder dass neu errichtete Mauern die Migration stoppen? Ich schaue ein Video, von polnischen Grenzsoldaten durch Stacheldraht hindurch gefilmt, wie belarussische Soldaten auf der belarussischen Seite Migranten misshandeln. Die Polen filmen es als Beweis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einer von ihnen sagt auf Russisch zu den belarussischen Grenzern: „Helft den Menschen.“ Ich schreie: „Hilf du ihnen doch!“
      Ist nicht die Zeit gekommen, die Niederlage der bestehenden politischen Modelle und die Notwendigkeit wirklicher Reformen einzugestehen? Dafür braucht es Mut. Und zwar nicht den, der durch Armeeuniformen demonstriert wird oder sich hinter Reden über Diplomatie versteckt. Man kann nicht in der einen Situation menschlich handeln und in der nächsten die Augen vor dem verschließen, was beispielsweise noch immer an der belarussisch-polnisch-litauischen Grenze geschieht. Denn wie dick die Mauern auch immer gebaut sind, die Pandemie hat uns gezeigt, dass sie nur eine weitere naive „Erfindung“ des Menschen sind. Wenn Margulis also sagt: „Wir leben in einer symbiotischen Welt“, dann heißt das, dass wir auf unterschiedlichsten Ebenen miteinander verbunden sind. „Irgendwo dort“ gibt es nicht, dieses „dort“ wird immer auch Einfluss auf mein „hier“ haben. 
      Als einen weiteren Schritt in Richtung Zukunft sehe ich die Abkehr von diesem Wir; das ist kompliziert, aber unerlässlich. Einerseits wird dieses Wir immer mehr zur Abstraktion, hinter der man ganz praktisch die eigene Verantwortung verbergen kann. Zudem ist dieses Wir immer häufiger defragmentiert, weil es eben gerade nicht erlaubt, komplex zu denken. Andererseits ist dieses Wir, wie auch die schönen Ideen von Gemeinschaft und Kollektivismus, von politischen und konsumfreudigen Losungen korrumpiert. 
      Daher muss nicht das Wir mobilisiert werden, sondern das Ich, um die Verantwortung für den Garten zu tragen, den ich pflege. Denn ich glaube an den Willen und die Kraft gerade dieses Ich, das die heutigen Politiker ignorieren. 
      Und gerade deshalb stehen sie vor der Niederlage.

      tell them we don’t know
      of the politics
      or the science
      but tell them we see
      what is in our own backyard
               Kathy Jetn̄il-Kijiner, ‘Tell them’, 2011

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