Bilder vom Krieg #22

Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Daniel Rosenthal

An der Marineakademie in Odessa bereiten sich 800 junge Menschen auf ein neues akademisches Jahr vor. Sie hoffen, nach dem Ende des Krieges und der Aufhebung der Seeblockade im Hafen oder in der Schifffahrt arbeiten können. Der 16-jährige Konstantin Lutsenko probiert schüchtern den Matrosenanzug an, den alle Studenten im Theatersaal der Universität tragen. Als er nach seinen Träumen gefragt wird, leuchten seine Augen. „Ich werde eine Ausbildung zum Skipper auf dem großen Meer machen“, sagt er. „Ich möchte die Welt sehen.“ / Foto © Daniel Rosenthal

 

Ukrainische Soldaten erhalten eine Laser-Therapie in einem Sanatorium an einem geheimen Ort in der Provinz Charkiw. Sie absolvieren zwei Wochen lang ein spezielles Reha­bili­tat­ions­pro­gramm. Dann sollen sie ausgeruht in den Krieg zurückkehren. / Foto © Daniel Rosenthal 

 

dekoder: Sie haben zwei Fotos von Ihren Reisen in der Ukraine ausgewählt: Das erste zeigt einen Jugendlichen beim Eintritt in die Marine­akademie in Odessa. Was sieht man auf dem zweiten?  

Daniel Rosenthal: Das ist eine Szene aus einem Sanatorium. Die ukrainischen Soldaten können sich dort zwei Wochen lang erholen, bevor sie wieder zurück in den Einsatz müssen. Sie bekommen Lasertherapie und Atemtherapie und inhalieren Salz­lösung und Lavendel­duft. Dort traf ich den Bären. Das ist der Mann, der seine Hand ans Gesicht hält. Seinen Codenamen bekam er wegen seiner bärigen Statur. Er ist Maschinen­gewehr­schütze und hat bei Wuhledar gekämpft. Anderthalb Jahre war er fast kontinuierlich an der Front.  

Und jetzt darf er sich 14 Tage in einem Sanatorium davon erholen? 

Ich traf den Bären auf einer Bank im Park, als er eine Zigarette rauchte. Er sagte: „Es ist so still hier. Diese Stille!“ Die Stille und das Vogel­gezwitscher, das hat ihn fertig gemacht. Später hat er das erklärt: Es war immer still, bevor die Russen angegriffen haben. Stille bedeutete für ihn immer Gefahr. Und jetzt ist er in diesem Sanatorium, nach anderthalb Jahren hinter dem Maschinengewehr, und muss mit der Stille dort klarkommen. Er erzählte dann noch, dass seine Familie, die er andert­halb Jahre nicht gesehen hat, ihn besuchen kommt. Und man hat gemerkt, dass er sich natürlich einerseits freuen will, aber anderer­seits total am Ende ist und eigentlich gar nicht mehr kann. Dieser Kontrast zwischen dieser Statur und diesem Wesen, das total am Ende war, das fand ich sehr berührend.  

Wie soll diesen Männern während zwei Wochen in einem Sana­torium geholfen werden?  

Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Sanatorium atmet einerseits noch den Geist der Sowjetunion, mit Bädern und Anwendungen. Zusätzlich gibt es aber auch Gesprächs­therapie und Yoga zum Beispiel. Das war natürlich ein un­glaub­liches Bild, diesen Bären und seine Kammeraden in der Yoga­stunde zu beobachten. Sie haben sich alle Mühe gegeben, es wirkte fast komisch, wenn die Umstände nicht so tragisch wären. 

Und nach den zwei Wochen Yoga und Therapie geht es wieder zurück an die Front? 

Danach geht es wieder in den Einsatz, ja. Das läuft so, dass der Kommandant einer Einheit Leute auswählt, von denen er glaubt, dass die eine Auszeit nötig haben. Ob die von sich aus das Bedürfnis haben, Yoga zu machen, lässt sich schwer sagen. Die leiden alle unter einer schweren post­trauma­tischen Belastungs­störung und wissen selbst gar nicht, was sie eigentlich wollen und brauchen. Wenn man sie fragt, sagen alle, sie wollen sofort zurück zu ihren Kameraden. Das scheint eine typische Reaktion von Menschen in solchen Situationen zu sein: Sie haben ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kameraden im Stich lassen. Von einer Heilung sind die nach zwei Wochen natürlich weit entfernt. 

Ihr zweites Bild zeigt den Anfang einer Karriere als Soldat. Was ist die Geschichte hinter diesem Foto?  

Das stammt aus einer Reportage aus der Hafenstadt Odessa. Zu Beginn des Studien­jahres werden 800 junge Kadetten an der Marine­akademie auf­ge­nommen. Die Leiterin der Kleiderkammer gibt Uniformen an die Erst­semester aus. Viele träumen davon, die Meere zu befahren und die weite Welt zu sehen. In der Realität ist das Schwarze Meer weitgehend durch russische Kriegsschiffe blockiert. Diesen Clash zwischen Traum und Wirklichkeit fand ich inte­res­sant.  

Sie fotografieren seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Wie gehen Sie selbst mit den belastenden Er­lebnissen um?  

Ich halte meine Aufenthalte an der Front oder in der wirklichen Gefahren­zone relativ kurz. Erst recht, seit ich Kinder habe. Aber natürlich wirken die Ereig­nisse nach. Oft kommen die Gefühle hoch, wenn ich wieder zuhause bin und die Bilder bearbeite und um mich herum geht das normale Alltags­leben weiter. Seit ich Vater bin, kann ich die Ver­zweif­lung der ukrainischen Eltern noch einmal ganz anders nach­empfinden. Ich glaube, das muss dich wirklich fertig machen, wenn du nicht in der Lage bist, dein Kind zu beschützen. 

 

Fotografie: Daniel Rosenthal 
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
Interview: Julian Hans 
Veröffentlicht am: 27.09.2024 

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