Eine Karte der Verwüstung

Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge mehr als 80.000 Menschen getötet, noch mehr flohen, mehr als 80 Prozent der Wohnungen wurden zerstört. Seit September 2022 ist Mariupol vollständig unter russischer Verwaltung. Der versprochene Aufbau geht derweil kaum voran. Geflohene Besitzer werden enteignet, die besten Objekte sichern sich die russischen Besatzer. Mediazona hat Eindrücke gesammelt: Von Bewohnern, von einem Bauarbeiter aus Siribiren, der geschockt wieder heimgefahren ist, und von einem Kartografen, der die Zerstörung von Israel aus dokumentiert.

„Mariupol gehört zu Russland. Punkt“ steht auf diesen Imbiss-Wägen, bei denen die verbliebenen Bewohner der Ruinenstadt sich eine Mahlzeit besorgen können. Die Bilder hat ein Bauarbeiter mit Namen Michail aufgenommen und der Redaktion von Mediazona überlassen. / Fotos © Mediazona

Oxana hat mit ihrem Mann und ihrem Kind am 16. März 2022 Mariupol in Richtung Dnipro verlassen. Vor dem russischen Überfall lebte sie im Bezirk Primorski. Im Keller ihres Wohnhauses betrieb sie einen Kosmetiksalon. Dort versteckte sie sich mit ihrer Familie drei Wochen lang, als Mariupol beschossen wurde, erzählt sie Mediazona

„Ein fünfstöckiges Haus auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadtverwaltung“, erinnert sie sich an ihr früheres Zuhause. „Alle Häuser in der Nähe wurden sofort zerstört, zurück blieben nur Ruinen. Aber unser Haus blieb wie durch ein Wunder unbeschadet, bis auf die zerplitterten Fenster natürlich.“

Vergangenes Jahr, als Oxana schon in Vilnius lebte, ließ die Besatzungsregierung ihre leerstehende Wohnung in Mariupol durchsuchen. Bei ihrer Flucht hat die Ukrainerin zwar die Unterlagen für ihre Wohnung mitgenommen, aber mittlerweile ist es für sie unmöglich, nach Mariupol zu gelangen. Im November 2023 habe sie es von Estland aus versucht, erzählt Oxana, aber am Grenzübergang Iwangorod verweigerte man ihr die Einreise nach Russland.

Anlass für die versuchte Einreise war allerdings nicht die zurückgelassene Wohnung sondern Oxanas Mutter, die sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen hat. Oxana hatte gehofft, ihre Mutter und ihre Großmutter aus Mariupol herauszuholen. Die Mutter wurde im Frühling 2022 bei einem Beschuss zu Hause verwundet, seitdem sei das Haus immer noch „durchlöchert“, sagt Oxana. „Mittlerweile ist Mama dort ganz allein – sie hat weder Nachbarn noch Verwandte. Sie hat meine bettlägerige Großmutter zu sich geholt und pflegt sie, obwohl sie selbst kaum laufen kann. Und sie bekommen weder Gehalt noch Rente. Ich hätte sie da rausholen müssen.“

Die flächendeckende Inventur 

Oxana ist sich sicher, dass ihre Wohnung am Meer jetzt verstaatlicht, also beschlagnahmt wird. In der Stadt wird gerade eine sogenannte flächendeckende Inventur durchgeführt. Legt der Eigentümer einer Immobilie der Besatzungsregierung nicht innerhalb von dreißig Tagen seine Dokumente für die Wohnung vor, „verliert er das Recht auf Nutzung“. 

Bewohner, die ihr Zuhause durch die Kampfhandlungen verloren haben, demonstrieren und fordern die ihnen versprochenen Wohnungen: „Das Haus, in dem wir viele Jahre gewohnt haben, existiert nicht mehr. Man hat uns hängen lassen: Man gibt uns keine Wohnungen, man verspricht sie uns nicht einmal mehr. Helfen sie uns, Wladimir Wladimirowitsch! Sie sind der Garant der Verfassung!“

Ein Video von den Protesten in der Stadt zeigt eine Frau mit einem Zettel in der Hand, sie redet aufgeregt, verhaspelt sich: „Das ist unser Haus auf der Artjoma 88. Dreißig Jahre haben wir da gewohnt. Und im Februar 2022 wurde es dem Erdboden …“ Sie kommt ins Stocken. Jemand aus der Menge spielt ihr einen Euphemismus zu: „Es hat gelitten.“ Sie korrigiert sich: „… hat unser Haus während der Kampfhandlungen gelitten.“

„Jetzt sind alle auf der Straße gelandet“, schließt sie, wie um sich zu entschuldigen. „Die Volksrepublik Donezk schränkt unsere Rechte ein und verstößt damit gegen die russische Verfassung.“

Straßenszenen aus Mariupol. Der russische Dienst Yandex tilgt zerstörte Gebäude aus seinen Karten. Ein Aktivist in Israel dokumentiert jede Ruine und jedes Grab in der Stadt. / Fotos © Mediazona

Eine Karte der verschwundenen Häuser

Ihre Pläne, Mariupol wieder aufzubauen, hatte die russische Regierung schon am 24. März 2022 bekanntgegeben, als die Kämpfe um die Stadt noch tobten. Seit dem Herbst 2022 verschwinden von den Karten des Anbieters Yandex zunehmend Einträge von zerstörten Häusern.

Aber auf einer anderen Karte gibt es diese Häuser noch. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgt Witali Stutman dafür, ein Social-Media-Experte aus Israel. Die Zahl der Häuser auf der Karte wächst, mit den genauen Adressen helfen ihm nicht selten auch die Einwohner Mariupols.

„Bisher sind 2000 Wohnhäuser verzeichnet“, erzählt Stutman. „Nicht alle sind komplett verschwunden, manche sind beschädigt oder die Ruinen stehen noch. Außer den Wohnhäusern finden sich dort an die hundert andere Gebäude: 55 Schulen, 16 Kindergärten, 15 Hochschulen, 20 Krankenhäuser, 16 Kirchen. Und noch knapp hundert Restaurants, Geschäfte, Hotels und so weiter.“

Im Oktober 2022 hat das Zentralnstitut für Stadtplanung im Auftrag des russischen Bauministeriums einen Plan für den Wiederaufbau Mariupols bis 2025 erarbeitet, der von The Village veröffentlicht wurde. Laut Prognosen des Instituts soll die Stadtbevölkerung von Mariupol bis zum Jahr 2025 von 212.000 auf 350.000 anwachsen. Ganz oben, unter „prioritäre Aufgaben“, ist in diesem Plan der „Wiederaufbau von Wohnobjekten wie Einfamilienhäusern und Wohnblöcken in Leichtbauweise“ verzeichnet. Gefolgt von städtischer Infrastruktur und „der Wiederherstellung und dem Erhalt von Grünflächen“. In dem Bauvorhaben findet sich auch das Theater, in dem bei den russischen Luftangriffen vom 16. März 2022 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 12 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Vizepremier Marat Husnullin versicherte, das Theater werde bis Ende 2024 wiederaufgebaut.

Alle Baumaßnahmen in Mariupol werden von einem Unternehmen mit der Bezeichnung Zentraler Auftraggeber im Bausektor geleitet. Im März 2023 veröffentlichte die Firma einen Bericht mit der Gesamtzahl der Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind: 407. Davon waren 321 wie berichtet bereits abgerissen worden. An weiteren 1829 Objekten sollten „Sanierungsarbeiten“ durchgeführt werden. Nach Angaben von Bumaga ist der Wert der Aktiva des Unternehmens Zentraler Auftraggeber im Jahr 2022 um 182 Prozent gestiegen. Im Dezember gab das Unternehmen an, 20.000 Bauarbeiter aus allen Teilen Russlands seien nach Mariupol gekommen.

Im Dezember 2022 zählte die Agentur Associated Press auf Satellitenaufnahmen vom besetzten Mariupol über 10.300 Gräber, die seit Beginn des russischen Angriffs hinzugekommen waren. Auf Witali Stutmans Karte sind über 400 Gräber eingezeichnet; außerdem die Orte, an denen die Menschen umkamen, mit Fotos. Viele befinden sich in den Innenhöfen der Häuser, wo nun gebaut wird. Niemand weiß, ob die sterblichen Überreste der Opfer vor den Bauarbeiten auf einen Friedhof umgebettet wurden. 

„Nicht anzünden! Dieses Haus ist bewohnt“ hat jemand an die Fassade eines Gebäudes in Mariupol geschrieben. Auf dem Zaun steht „Hier wohnen Menschen“. / Fotos © Mediazona

„Bei meiner Rückkehr war ich moralisch erschüttert.“ Bericht eines Bauarbeiters

„Für mich war das in gewisser Hinsicht eine wirklich traumatische Erfahrung“, gibt Michail aus Nowosibirsk im Gespräch mit Mediazona zu. Von Oktober bis Dezember 2022 war er Hilfsarbeiter auf der Baustelle des Hotels Drushba – heute ist es ein Wohnheim für Mariupols Stadtbewohner, die ihre Wohnung verloren haben.

„Als ich wieder zu Hause war, stand ich unter Schock, ich war moralisch erschüttert von dem, was ich gesehen habe“, erzählt Michail. „Wir haben weder etwas zu essen noch eine Unterkunft bekommen. Die Erfahrung war außerdem traumatisch, weil die Stadt aus ausgebrannten Ruinen bestand, und die Stadtbewohner uns von ihren schrecklichen Verlusten erzählten, die der Preis für ihre ‚Befreiung‘ waren, um die sie nie gebeten hatten, glaube ich.“ 

Damals reiste Michail schon seit einem Jahr per Anhalter durch Russland und verdiente sich auf Baustellen etwas dazu. Er hatte gehört, dass Mariupol eine gute Möglichkeit sei, auf dem Bau etwas Geld zu machen.

„Ein Justizangestellter hat mich nach Mariupol mitgenommen. Bei der Baustelle Drushba hat er mich rausgelassen; dort habe ich mich mit ein paar Leuten unterhalten und erfahren, dass sie Arbeit haben“, erinnert sich Michail. „Sie haben mir angeboten, gleich am nächsten Tag anzufangen. Ich weiß gar nicht, ob ich denen meinen Pass gezeigt habe. Ihre Pässe habe ich, glaube ich, auch nicht gesehen. Die haben nur gefragt: ‚Also los?‘, und mich zu sich nach Hause mitgenommen, wo ich schlafen konnte.“

Das Haus in Guglino, einem Dorf in der Nähe, mietete die Bauarbeiterkolonne für 10.000  Rubel [100 Euro – dek] monatlich. Anfangs gab es weder Strom noch Wasser. Michail verdiente 2000 Rubel [20 Euro – dek] am Tag; er machte alles Mögliche: Verladen, Malern, Spachteln, Putzen. Für welche Firma er in Mariupol arbeitete, weiß er gar nicht. 

„Unser Vorarbeiter hat auf verschiedenen Baustellen mit zwei unterschiedlichen Firmen zusammengearbeitet: TechnoStroi aus Petersburg und RosKomStroi aus Moskau“, erinnert sich Michail. „Drushba müsste zu der Moskauer Firma gehört haben.“

Die Webseite des Moskauer Bauunternehmens RosKomStroi wurde seit 2018 nicht aktualisiert, die dort angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Das Unternehmen TechnoStroi wird von Iwan Oryntschuk geleitet, einem Geschäftsmann aus Sankt Petersburg. Im November vergangenen Jahres wurde er von der Regierung „für den Wiederaufbau“ Mariupols ausgezeichnet. 

„Sehr geehrte Abgeordnete, das, was Petersburg dort leistet, ist eine Heldentat“, sagte Oryntschuk bei der Verleihung. „Ich habe mittlerweile mehr als fünf Monate in Mariupol verbracht. Wir werden alle unsere Aufgaben erfüllen, wir tun es jetzt schon. Sankt Petersburg wird Mariupol wiederaufbauen – so ein Team macht das Unmögliche möglich.“

Knapp eine Woche später wurde er verhaftet, weil er auf staatlichen Baustellen 70 Millionen Rubel [etwa 700.000 Euro – dek] veruntreut haben soll. 

Schätzungen zufolge sind bei der Belagerung der Stadt im Frühjahr 2022 mehr als 80.000 Menschen ums Leben gekommen. Viele Leichen werden noch in den Trümmern ihrer zerstörten Wohnungen vermutet. / Fotos © Mediazona

„Bis heute hausen sie in Kellern.“ Wie die Menschen in Mariupol leben

Um neuen Wohnraum zu bekommen, muss man bei der Stadtverwaltung der Besatzungsregierung von Mariupol Unterlagen seiner zerstörten Immobilien vorlegen. 

„Viele haben diese Unterlagen nicht: Als die Stadt beschossen wurde, mussten sich die Menschen in Sicherheit bringen, da haben sie nichts mitgenommen“, erzählt Nikolaj Ossytschenko, der ehemalige Chef des TV-Senders in Mariupol. Er verließ die Stadt am 15. März 2022, betreibt aber immer noch einen Telegram-Kanal und hält nach eigenen Angaben Kontakt zu den Menschen, die vor Ort geblieben sind. 

„Schon im vergangenen Jahr veröffentlichte die Stadtverwaltung der Besatzer Mariupols erste ‚Listen verlassenen Wohnraums‘ und brach leerstehende Wohnungen auf“, erzählt Ossytschenko. Meldet sich der Eigentümer nicht innerhalb von 30 Tagen nachdem seine Wohnung auf so einer Liste aufgetaucht ist bei der Stadtverwaltung, und legt die Dokumente für die Wohnung vor, wird diese für „herrenlos“ erklärt und „verstaatlicht“.
„Im letzten Jahr war es noch möglich, sich von einem Nachbarn bestätigen zu lassen, dass die Wohnung dir gehört – das geht jetzt nicht mehr. Jetzt musst du persönlich da sein oder dich von einem russischen Notar vertreten lassen“, erklärt Ossytschenko.

Aber manchmal helfen selbst die Dokumente für eine Wohnung nicht. Alexandra Borman ist Waise. Zwölf Jahre hatte sie darauf gewartet, dass ihr eine Wohnung zugeteilt wird. Ein Jahr vor dem russischen Angriff hatte sie endlich eine Wohnung im Haus Nr. 29 auf der Uliza Geroitscheskaja (dt. Heldenstraße) bezogen. Da brach der Krieg aus. 

„Wir verließen unser Haus, und noch am selben Tag wurde es von einer Rakete getroffen, es ist sofort halb eingestürzt“, erzählt sie Mediazona. „Jetzt wohnen wir in einem kleinen Haus in dem Bezirk Mirny, seit vier Tagen haben wir keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, der Ofen auch nicht. Es sind zwei Grad Celsius im Haus, dabei habe ich zwei Kinder.“

„Das zerstörte Haus blieb lange als Ruine stehen“, erzählt Alexandra. In der Zwischenzeit hat sie alle Unterlagen zusammengetragen: den Wohnbescheid, die Meldebescheinigung, den Vertrag für die Sozialwohnung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine neue Wohnung abgelehnt. Ohne Begründung. 

Nikolaj Ossytschenko erzählt, dass als Erstes Beamte von der Besatzungsregierung und zugereiste Bauarbeiter in Mariupol Wohnungen bekämen, die „Unterbringung der einfachen Leute“ sei zweitrangig. Manche Stadtbewohner brachte man in Notunterkünften unter – in diesen Wohnheimen leben sie bis heute, obwohl ihnen zugesichert wurde, das sei eine vorübergehende Lösung. 

„Es gibt Menschen, die immer noch in Kellern leben“, berichtet Ossytschenko. „Eine Freundin erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter, einer alten Frau, seit anderthalb Jahren in einem Keller wohnt. Ihr Haus wurde zerbombt, sie kann nirgendwo anders hin. Sie wollte wissen, wie teuer es ist, aus Mariupol in die Ukraine auszureisen. Sie sagt, noch einen Winter im Keller überstehen sie nicht.“

„Da ist alles vollkommen im Arsch.“ Warum nicht alle Bezirke wiederaufgebaut werden

„Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist“, sagt Ossytschenko.

„Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte – deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut“, erklärt er. „Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.“

Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, mit der neuen Regierung in Mariupol hat er die Zusammenarbeit verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden – knapp vier Kilometer entlang der Küste. 

„Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut“, sagt er. „Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.“ 

Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es „Room Tours“ durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen).

„Vom Balkon hat man eine fabelhafte Aussicht, kommt mit, ich zeige es euch“, sagt in einem dieser Videos eine Maklerin namens Natalja, während sie den Blick von der einstürzenden Decke abwendet und sich ihren Weg durch die zerstörten Möbel in der bombardierten Wohnung bahnt. 

„Stellen Sie sich das mal vor, ein Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht und man gibt den Menschen gar nichts“, entrüstet sich Oleg. Als Beispiel führt er das berühmte Haus mit der Uhr an, das 2022 beschädigt und bald darauf abgerissen wurde. Im Juli gab die Stadtverwaltung bekannt, dass die Wohnungen in dem neuen, rekonstruierten Haus mit der Uhr zum Verkauf stünden. Anzeigen in den sozialen Netzwerken zufolge kostet eine Einzimmerwohnung in dem noch nicht fertig gebauten Haus fünf Millionen Rubel [50.000 Euro – dek], für zwei Zimmer bezahlt man achteinhalb Millionen. Oleg ist sich sicher: „Einheimische können sich diese Wohnungen nicht leisten, auch nicht auf Kredit – in der Stadt gibt es keine Arbeit.“  

Dabei sind die Wohnungen im Haus mit der Uhr längst verkauft, teilte das Büro des Bauunternehmens PKS-Development auf Anfrage von Mediazona mit. Laut dem Sales Manager sind nur noch Wohnungen im neunstöckigen Nachbarhaus verfügbar, das auch noch gebaut wird. 

„Wir vergeben alle Wohnungen zu gleichen Konditionen“, hieß es in der Stellungnahme des Bauunternehmens. „Als Bauunternehmen sind wir nicht für Entschädigungen zuständig, wir bauen Häuser. Mit Entschädigungsfragen beschäftigt sich die Lokalverwaltung.“ 

„Die Besatzungsregierung hat nicht die Mittel, um die Stadt vollständig wiederaufzubauen“, sagt Oleg. „Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nach wie vor nicht, obwohl die prorussische Lokalpresse das Gegenteil behauptet. Gleichzeitig boomt der Immobilienbau durch private Investoren.“

„Es kommen Lkws aus Taganrog oder Rostow mit fertigen Zimmern auf der Ladefläche“, beschreibt Oleg das modulare Bauen. „Das sind Kästen mit Löchern für die Fenster, die werden aufeinandergestapelt, verschraubt, die Übergänge verspachtelt. Eins zwei drei – schon hat man Häuser.“

Nach einem heftigen Sturm Ende November veröffentlichen ukrainische Nutzerinnen in Sozialen Netzwerken allerdings Bilder vom abgerissenen Dach eines solchen Neubaus im Westen Mariupols. „So viel zur Qualität“, war der Kommentar zum Post.

„Nach dem Sturm im November blieben 3500 Haushalte in Mariupol ohne Strom“, teilte der stellvertretende Bürgermeister Oleg Morgun mit. „Privathaushalte waren mehr als zehn Tage lang vom Stromnetz abgeschnitten, manche Bezirke sogar bis Ende Dezember.“

Im März 2023 besuchte Wladimir Putin das besetzte Mariupol. Er war auch in Newski, dem Neubau-Bezirk. Als er sich mit den Leuten auf der Straße unterhielt, rief eine Frauenstimme im Hintergrund etwas, das viele später als „Das ist alles gelogen. Das ist alles nur zum Schein“ erkannten. Diese Sequenz wurde aus dem Beitrag auf der Kreml-Webseite entfernt. Genau wie eine andere, in der ein älterer Herr zu Putin sagt, er habe „mit 70 Jahren alles verloren“. „Jetzt hat er wieder alles“, korrigierte ihn sofort eine Nachbarin mit nervösem Lachen. 


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