Im Land der Mütter

„Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherland erkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben. 

Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?

Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).

Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?

Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.

Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?

Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann. 

Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?

Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.

Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?

Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.

Haben Sie schon neue Projekte?

Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.

Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova

Aus dem Video-Archiv von Motherland, Belarus, 2018-2021

Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana TkachovaFotografie: Tatsiana Tkachova
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Team
Veröffentlicht am: 30.11.2023

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