Zukunftsflimmern in Belarus

Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter. 

Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.

Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.

Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.

Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.

Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern

Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.

Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.

Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images

Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).

Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.

Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.

Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.

Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“

Das Risiko, außen vor zu bleiben

Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.

Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.

Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.

Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.

Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.

Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft

Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.

Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.

Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.

Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.

Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.

Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.

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