„Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss”

„Wenn ihr könnt, geht jetzt.“ Mit diesen Worten wandte sich der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky kürzlich an die Menschen in seiner Heimat. Anlass ist eine Gesetzesänderung, mit der noch leichter zum Krieg gegen die Ukraine eingezogen werden kann als bisher: Einberufungsbescheide können künftig elektronisch über das staatliche Serviceportal Gosuslugi zugestellt werden. Ferner dürfen Empfänger eines solchen Bescheides das Land nicht mehr verlassen. Das Gesetz wurde bereits in beiden Kammern des Parlaments angenommen. In Sozialen Medien wird befürchtet, dass dies als Vorbereitung einer neuen Mobilmachung diene. „Es ist ein Gesetz über das Recht des Staates, einen jeden per Mail zum Tode zu verurteilen – ohne Recht auf Einspruch oder Möglichkeit zur Flucht“, schreibt Glukhovsky weiter.

Der Schriftsteller ist nicht nur für seine Metro-Romane bekannt, sondern auch für seine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in Russland. Wegen seiner Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Glukhovsky am 21. März in Moskau angeklagt. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Am heutigen Donnerstag (13. April) wird die Verhandlung fortgesetzt. Gegen die Vorwürfe wehrte sich Glukhovsky in einem Brief an das Gericht, den er auch auf Facebook veröffentlichte.

Update: Am 7. August 2023 wurde Glukhovsky in Abwesenheit zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt

„Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine“ / Foto © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Henrik Montgomery/TT

Ich bin nicht in Russland, aber ich stehe in Russland vor Gericht. Gestern fand die erste Sitzung statt. 

Angeklagt bin ich nach dem neuen Artikel 207 Absatz 3. De facto ist das ein Gesetz zur Kriegszensur, abgefeimt wie immer im Putin-Russland: Das „Gesetz über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“.
Hier der Brief, den ich an das Basmanny-Gericht [in Moskau – dek] geschickt habe:

„Wozu dienen Gesetze?

Gesetze dienen dazu, die Schwachen vor den Übergriffen der Starken zu schützen und die Starken vor der Versuchung, sich an den Schwachen zu vergreifen. Gesetze dienen dazu, Verbrecher zu bestrafen und neue Verbrechen zu verhindern. Dazu, das Schlechte im Menschen auszumerzen und das Gute blühen zu lassen.

Es gibt nichts, das wichtiger und kostbarer wäre als euer Leben. Dieses Leben gehört nur euch und sonst niemandem. Niemand hat das Recht, es euch wegzunehmen. Niemand hat das Recht, die Menschen, die ihr liebt, zu töten. Und niemand hat das Recht, euch zu befehlen, völlig unschuldige Menschen umzubringen.

Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das verbietet, die Wahrheit darüber zu sagen, dass andere unschuldige Menschen töten – ein solches Gesetz sollte niemand befolgen.

Wenn ein Gesetz von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen

Es spielt keine Rolle, ob die Mörder Soldaten unseres Landes sind. Es spielt keine Rolle, ob sie den Befehl ihrer Kommandanten oder ihres Oberbefehlshabers ausführen. Ein Soldat, der einen unschuldigen Menschen tötet, ist ein Verbrecher. Sogar schlimmer als ein gewöhnlicher Verbrecher, denn dahinter steht ein riesiger Gewaltapparat, dem das Opfer nichts entgegensetzen kann.

Wozu braucht es einen Strafrechtsparagrafen über die ,Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation‘? Er soll verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräuel zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischen Boden begehen. Über Folter, Vergewaltigungen, illegale Hinrichtungen. Diese Folter und Vergewaltigungen sind dokumentiert. Die Leichen, deren Hände auf dem Rücken mit dem weißen Band gefesselt waren, die die russischen Soldaten ukrainischen Bürgern zu tragen befohlen, sind exhumiert. Es sind Fakten. Es ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu vertuschen, um weiter ungestraft zu morden, foltern und vergewaltigen.

Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen

Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Mein Land hat ein anderes Land überfallen, das einst ein Bruderland war, ohne jeden Grund und Anlass. Es hat Panzer geschickt, um die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es hat Flugzeuge geschickt, um ukrainische Städte zu bombardieren. Es hat unzählige Menschenleben vernichtet. Dutzende von Städten dem Erdboden gleichgemacht. Es hat entgegen jedem internationalen Recht ukrainische Gebiete annektiert und zu seinem Eigentum erklärt.

Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Sein Grauen und seine Sinnlosigkeit sind zu offensichtlich. Aber die, die ihn entfesselt haben – Wladimir Putin und sein engstes Umfeld – können nicht zurück. Denn nach allen Gesetzen der Menschlichkeit sind sie echte Verbrecher und fürchten deswegen die Strafe für diese Verbrechen.

Doch in Russland herrscht heute das Gesetz des Stärkeren. Mit Gewalt werden Menschen gebrochen, mit Gewalt wird das Gesetz gebeugt, um vor Gericht das Recht zu erpressen, die Schwachen weiterhin zu brechen und das Gesetz weiterhin nach Belieben zu beugen. Das ist der Grund, warum in Russland menschenfeindliche Gesetze erlassen werden.

Die Wahrheit ist verboten

Man verbietet, den Krieg Krieg zu nennen, und ordnet an, ihn stattdessen als ,militärische Spezialoperation‘ zu bezeichnen, um sich weder von den eigenen Bürgern noch vor allen anderen für die unzähligen ukrainischen Opfer und die sinnlos geopferten russischen Soldaten rechtfertigen zu müssen. Man stopft jedem den Mund, der es wagt, ein Wort darüber zu verlieren. Die es doch tun, sperrt man für zehn oder fünfzehn Jahre ins Gefängnis.

Man verbietet, die Wahrheit als Wahrheit zu bezeichnen und die Lüge als Lüge. Man verankert diese Verkehrung im Gesetzestext, indem man erwiesene Fakten als ,wissentliche Falschinformation‘ bezeichnet. Man erlaubt Morde an Unschuldigen. Man befiehlt, sie zu vertuschen. Man schafft die Strafe für die Verbrecher ab. Und spornt sie an, neue Verbrechen zu begehen.

Die Staatsmacht zwingt uns in kürzester Zeit den Glauben auf, dass das unvorstellbar Böse normal und wünschenswert ist. Sie zwingt uns, die Grundprinzipien der Moral zu vergessen, die uns unsere Eltern von Klein an beibringen. Sie gewöhnt uns an die Lüge und ans Morden.

Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten

Das Verbot, die Wahrheit auszusprechen, und die Aufforderung, öffentlich Lügen zu verbreiten, hat einen Zweck. Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten. Ihren menschlichen Kern zu brechen, sie zu zwingen, aus Angst vor einer ungerechten Strafe auf sich selbst zu spucken, eigenständig ihre moralischen Grundfesten mit Füßen zu treten – ihr natürliches Verständnis davon, was menschliches Gesetz ist.

Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Weil es der russischen Macht nicht gelungen ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Staatsbürger. 

Selbsterhaltungstrieb der Staatsmacht

Auch wenn die Verwüstungen in der Ukraine mit bloßem Auge, ja sogar aus dem Weltraum, zu sehen sind, – so ist folgendes zu konstatieren: Die Zerstörung, die der russische Apparat aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Seele der Nation, in der DNA unserer Gesellschaft losgetreten hat, gefährdet, auch wenn noch unsichtbar, die Existenz Russlands.

Um sich heute selbst zu erhalten, zerstört die russische Staatsmacht die wunderschöne, aufblühende Ukraine und sie zerstört Russland, meine Heimat. Ich kann es nicht verhindern, aber ich kann auch nicht schweigen.

Ich bin überzeugt, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine klar benenne. Ich bin überzeugt, dass das Verteidigungsministerium und die oberste Führung der Russischen Föderation gelogen haben und lügen, um diesen grausamen, sinnlosen Krieg zu rechtfertigen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sie es sind, die an Russland und seiner Zukunft Verbrechen begehen, und nicht ich.

Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss. Und ich werde sie nicht befolgen.”


Dmitry Glukhovsky lebt seit 2022 im Exil. Im Mai 2023 erscheint sein neuester Roman Outpost – Der Aufbruch in deutscher Übersetzung von den dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

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