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Kampf der Oppositionen

2020 traten, für viele unerwartet, neue politische Anführer und Aktivisten in Belarus auf den Plan, die umgehend mit dem Label „Opposition 2.0“ versehen wurden. Die alte Garde, die sich jahrzehntelang auf den Moment des Umbruchs vorbereitet hatte, war mehr oder weniger aus dem Spiel.

Allerdings konnten auch die neuen Anführer nicht erreichen, dass die Proteste sich durchsetzen und zu einem politischen Wandel führen. Viele Vertreter der Opposition, der alten wie der neuen, kamen ins Gefängnis oder wurden ins Ausland vertrieben.

Zwei Jahre später scheint es, als ob die neue Opposition in die gleiche Falle tappt wie die alte: Sie wird von Fehden und Skandalen erschüttert. Vor allem hat sie keinen Einfluss auf das Geschehen in Belarus selbst. Die Umfragewerte für die Teams der demokratischen Kräfte im Ausland sinken. Es besteht die Gefahr, dass sie sich zerreiben wie einst ihre Vorgänger. Was aber ist mit der alten Opposition? Wie sehen die Aussichten der neuen Opposition aus? Diesen und anderen Fragen geht der Politanalyst Alexander Klaskowski nach.

Русская Версия

Die stürmischen Ereignisse des Jahres 2020 führten dazu, dass in Belarus eine neue Opposition entstand. Die alte Garde der ideellen Opponenten des Regimes, die viele Jahre lang davon geredet hatte, dass eine revolutionäre Situation unabdingbar sei, war auf paradoxe Weise in jenem historischen Moment, da die Massen erwachten, praktisch aus dem Spiel. Allerdings gelang es auch den neuen Anführern nicht, für einen Sieg der Proteste zu sorgen.

Ist die alte Opposition politisch noch am Leben? Hat sie eine Chance, im Kampf gegen das Regime von Lukaschenko das Wort zu führen, in einem Kampf, bei dem die Aussichten nach der Erstickung der Proteste erneut unklar sind?

Das Regime hat die alte Opposition schrittweise marginalisiert

Der Urtypus einer demokratischen Revolution in Belarus war die gegen Ende der Sowjetunion in den Jahren der Perestroika entstandene Belarussische Volksfront (BNF), die nach Vorbild der Bewegungen geschaffen wurde, die in den baltischen Ländern für eine Loslösung von der UdSSR kämpften. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit gab es keinen Präsidenten, und das Parlament, der Oberste Sowjet, war relativ pluralistisch (damals wurden bei Wahlen noch die Stimmen gezählt). Dort saß auch die zwar nicht große, doch energische Fraktion der BNF um ihren Anführer Senon Posnjak. 

Die Volksfront büßte allerdings allmählich ihre Popularität ein. Vielen Belarussen, deren Bewusstsein einer starken Russifizierung unterworfen war, erschien das von der Volksfront vorgelegte Programm zur nationalen Wiedergeburt zu radikal. Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft empfand bald Nostalgie für die UdSSR, was von dem talentierten Populisten Lukaschenko ausgenutzt wurde, der 1994 bei den ersten Präsidentschaftswahlen an die Macht kam. 

Unterdessen war Anfang der 1990er Jahre angesichts der relativ liberalen Haltung der Regierung ein ganzes Spektrum politischer Parteien entstanden. Einigen Parteien gelang es, sich offiziell registrieren zu lassen, bis zu dem Punkt, da das erstarkte autoritäre Regime von Lukaschenko diesen Prozess wieder einfror (seit 1999 wurde vom Justizministerium keine einzige neue Partei registriert).

Das Regime war da noch nicht so brutal wie jetzt. Es bandelte von Zeit zu Zeit mit dem Westen an. Die Oppositionsparteien wurden zwar diskriminiert, konnten aber legal agieren. Sie konnten Versammlungen abhalten, ihre Kandidaten nominieren und Wahlkampf machen.

Für die Opposition war es jedoch nicht möglich, die Machthaber durch einen Urnengang abzulösen. Zum einen hatte Lukaschenko einstweilen noch einen breiten Rückhalt bei den Wählern. Er konnte einen Anstieg des Lebensstandards gewährleisten, der nach postsowjetischen Maßstäben nicht schlecht war (und das in vielem durch die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe Moskaus). Die Masse der durchschnittlichen Belarussen war dem Führer dankbar für Speck und Schnaps.

Zweitens schanzte sich die Regierung bei den Wahlen Stimmen zu; dafür wurden die Wahlkommissionen mit den „eigenen Leuten“ besetzt. Und mit jedem Wahlgang nahmen die Fälschungen (die sich unter anderem durch unabhängige Sozialforschung ermessen lassen) immer größere Dimensionen an.

Drittens wurden Opponenten Lukaschenkos systematisch in ein Ghetto getrieben, durch Propaganda und Repressionen (die damals noch dosiert waren). Sie wurden als Loser und Agenten des Westens diffamiert.

Kurzum, die Opposition, die später die „alte Opposition“ genannt wurde, wurde schrittweise marginalisiert. Innerhalb der Opposition nahmen die Streitigkeiten zu. Deswegen brachte sie im Frühjahr 2020 sogar die eigenen „Primaries“ zum Scheitern, den Prozess zur Festlegung eines gemeinsamen Kandidaten, der der Gegenkandidat Lukaschenkos werden sollte.

Die Präsidentschaftswahlen, die für den 9. August 2020 angesetzt waren, hätten grau und blutleer sein können, doch warfen plötzlich neue Figuren dem Führer den Fehdehandschuh hin, Figuren ohne eine Aura aus Niederlagen und Skandalen: der Blogger Sergej Tichanowski, der ehemalige Banker Viktor Babariko und der ehemalige Leiter des Hightech-Parks Waleri Zepkalo.

Als man Tichanowski (und dann Babariko) verhaftete, zog unerwartet Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers, mit in den Kampf. Diese Frau, die gestern noch Hausfrau gewesen war, machte einen phänomenalen Wahlkampf. Ihre Gestalt verkörperte die Hoffnungen auf einen Wandel. Also stimmten Millionen für Tichanowskaja. Sie hat, mittelbar erlangten Daten zufolge, de facto über den Führer gesiegt.

Die Zentrale Wahlkommission verkündete jedoch einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der Stimmen. Die massenhaften spontanen Proteste empörter Verfechter von Veränderungen wurden brutal unterdrückt. Tichanowskaja wurde in die Emigration gezwungen, ein Teil ihrer Mitstreiter ebenfalls, ein anderer Teil wanderte ins Gefängnis.

Innerhalb des Landes wird jetzt alles Lebendige niedergebrannt

Die neuen Anführerinnen konnten den friedlichen Aufstand jedoch nicht wirklich leiten, sie hatten keine Strategie. Wenn man jedoch genauer hinschaut, hatte auch die alte, klassische Opposition nie eine wirksame Strategie. In ihren Kreisen herrschte folgende stereotype Vorstellung: Wenn hunderttausend Protestierende auf die Straße gehen, wird die Miliz auf die Seite des Volkes wechseln, und die Sache ist geritzt – das Regime stürzt.

2020 kamen jedoch mehrere hunderttausend Menschen zu den Kundgebungen. Dennoch gewannen die wohltrainierten und gut ausgerüsteten Sicherheitskräfte mit ihren von der Propaganda gewaschenen Hirnen die Oberhand. Lukaschenko fand Gefallen an der Gewalt und machte sie zu seinem wichtigsten politischen Instrument. Jetzt steckt die neue Opposition in der gleichen Sackgasse, in der die alte gesteckt hat: Gegen Gewalt helfen keine Pillen.

Unterdessen befahl Lukaschenko eine Neuregistrierung der Parteien, was praktisch eine Auflösung der alten Oppositionsprofile bedeutet. Es ist ein neues Parteiengesetz in Arbeit, dem zufolge nur zutiefst loyale Parteien auf die politische Bühne gelassen werden, als Attrappen.

Formal bestehen die Parteien der alten Opposition – unter anderem die Vereinigte Bürgerpartei (OGP), die Partei der BNF, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) (BSDP) und Gerechte Welt – zwar noch, doch de facto sind sie in einer Atmosphäre des absoluten Terrors gelähmt.

Der wohl letzte Versuch, legal eine öffentliche Aktion zu veranstalten, war der Antrag der Partei der Grünen vom April, den traditionellen Gedenkmarsch Tschernobylski schljach abzuhalten. Wie vorherzusehen, wurde er von den Behörden abgelehnt. Wer auf nicht genehmigte Veranstaltungen geht, landet mit Sicherheit im Gefängnis.

Einige Anführer der traditionellen Opposition, die sich den Protesten von 2020 angeschlossen haben, wurden zu wahrhaft stalinistischen Freiheitsstrafen verurteilt: der Christdemokrat Pawel Sewerinez zu sieben Jahren, der Sozialdemokrat Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren. Der Leiter der Partei der BNF, Grigori Kostussew, erhielt zehn Jahre, nachdem er der „Verschwörung zum Zwecke der Machtergreifung“ beschuldigt worden war.

Heute wird jede Aktivität im Land, die nicht unter der Kontrolle des Staates steht, kriminalisiert: Rühr dich und erhebe deine Stimme gegen das Regime, und schon wanderst du ins Gefängnis, wegen Volksverhetzung, „Beleidigung der Regierung“, „Extremismus“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ oder nach irgendeinem anderen fadenscheinigen Paragrafen des Strafgesetzbuches.

Ein Beispiel hierfür ist die OGP, die versucht hatte, in gewissem Maße aktiv zu bleiben. Daraufhin wurde die gesamte Parteispitze verhaftet. Anfang November erhielt Parteichef Nikolaj Koslow zweieinhalb Jahre Straflager. Formal wegen Beteiligung an einem Protestmarsch im August 2020, in Wirklichkeit jedoch, weil er versucht hatte, unter den aktuellen harten Bedingungen das Parteileben in Gang zu bringen. Vor kurzem ist Koslow von einem Parteitag als Vorsitzender wiedergewählt worden, aber das ist ein rein symbolischer Schritt. Aus dem Gefängnis heraus wird er die Partei nicht führen können. Und was genau soll er eigentlich leiten? Alle sitzen mucksmäuschenstill herum.

Andere Vertreter der alten Opposition waren gezwungen, sich vor dem Damoklesschwert der Repressionen ins Ausland zu retten. So befindet sich der Vorsitzende der BSDP, Igor Borissow, jetzt mit seiner Familie in Belgien. Die meisten emigrierten nach Litauen und Polen. Dabei schloss sich ein Teil der alten Oppositionsgarde in der Emigration Strukturen der neuen Opposition an. Einige werden sogar als graue Eminenzen betrachtet. Auf jeden Fall konnten die politischen Neulinge eindeutig die organisatorische und sonstige Erfahrung von Leuten gebrauchen, die sich dem Regime schon viele Jahre entgegenstellen.

Im Team von Tichanowskaja arbeiten die Vertreter der OGP Alexander Dobrowolski, Anatoli Lebedko und Anna Krassulina. Olga Kowalkowa von der Belarussischen Christdemokratie ist eine der prominenten Figuren des Koordinationsrates, der als Urparlament eines zukünftigen Belarus betrachtet wird. Dem Anführer der Bewegung für die Freiheit, Juri Gubarewitsch, wurde im Vereinigten Übergangskabinett, einer Art Exilregierung, die Aufgabe anvertraut, die „Kaderreserven für ein neues Belarus auszubilden“.

Protestveranstaltung gegen Lukaschenko am 23. August 2020, Minsk, Belarus / Foto © Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Wird Lukaschenko von einer Opposition 3.0 überwunden werden?

Die alte Opposition liegt also zum Teil am Boden und ist nicht mehr dabei. Zum Teil ist sie gewissermaßen in der „Opposition 2.0“ aufgegangen. Gleichzeitig sind die Vorstellungen der alten Garde nicht verschwunden. Ein markantes visuelles Symbol der Proteste 2020 ist das Meer der historischen weiß-rot-weißen Flaggen. Die Bestrebungen der BNF und anderer oppositioneller Gruppen der „ersten Welle“, die das nationale Bewusstsein stärken wollten, haben Früchte getragen.

Vertreter der alten Opposition hatten Tichanowskaja und die anderen politischen Neulinge von 2020 anfangs kritisiert, weil die Plattform schwammig sei, weil man Referenzen Richtung Moskau mache, weil man der Frage aus dem Weg gehe, wem die Krim gehört, weil man sich nicht genug um das Belarussische und das historische und kulturelle Erbe der Nation kümmere. Die neue Opposition formuliert jetzt immer deutlicher Parolen von einer nationalen Wiedergeburt, einem Widerstand gegen die imperialistische Politik des Kreml und einem europäischen Weg. Man tastet also auf der Suche nach Rückhalt das ideelle Fundament ab, das de facto von der traditionellen Opposition gelegt wurde. Allerdings tappte die neue Opposition in die gleiche Falle wie die alte. In den letzten Monaten 2022 wird die nach 2020 entstandene politische Diaspora von Fehden und Skandalen erschüttert.

Kritiker sind der Ansicht, dass das Team von Tichanowskaja den ganzen Kuchen will, sich gegen die Bildung einer starken Koalition wendet, zu wenig transparent ist und keine klare, überzeugende Strategie hat. Einige Mitglieder ihres Teams versuchen, die berechtigte Kritik und die Recherchen unabhängiger Medien als Wühlarbeit des Regimes und seiner Geheimdienste hinzustellen.

Das größte Problem besteht darin, dass die politische Diaspora keine Hebel in der Hand hat, um auf das Geschehen in Belarus selbst Einfluss zu nehmen. Der politische Terror, den das Regime entfesselt hat, wirkt. Lukaschenko hat mit seinen barbarischen Methoden die Lage im Land betoniert.

Schwer zu sagen, wie lang dieser Alptraum andauern wird, aber es bleibt eine Tatsache: Die Massen zu einem Aufstand gegen das Regime zu mobilisieren (das nach Ansicht einer Reihe von Politologen in eine totalitäre Phase getreten ist) ist heute undenkbar. Also hängen sämtliche Strategien seiner Opponenten in der Luft. Viele Anhänger von Veränderungswünschen sind frustriert. Die Umfragewerte der Teams der demokratischen Kräfte im Ausland gehen zurück. Dort riskiert man, sich in Streitereien zu verheddern, in eine Imitation stürmischer Aktivität abzugleiten und letztendlich marginalisiert zu werden, wie es einst mit der alten Opposition geschah.

Natürlich wird das Regime von Lukaschenko nicht ewig währen. Aber auch das Mandat und der Vertrauensvorschuss für Tichanowskaja, ihr Team und für die ganze neue Opposition sind nicht auf ewig. Und wenn sie die Herausforderungen nicht bewältigt, dann könnte es sein, dass im Moment des Wandels nicht sie an der Spitze steht, sondern ganz andere, deren Namen wir heute noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird es eine Opposition 3.0 geben, die letztendlich nicht mehr Opposition, sondern Regierung sein wird.

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