Bilder vom Krieg #8

Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Anastasia Taylor-Lind

Anna Dedowa, 75, am Grab ihres Sohnes, der sich versehentlich mit einer Handgranate getötet hat, die er in der Nähe seines Hauses in Optyne, einem Dorf in der Region Donezk, gefunden hatte. Dieser Besuch am Grab im Jahr 2019, der von einem dort ansässigen Aktivisten organisiert wurde, ist ein seltenes Ereignis für sie. Denn der Friedhof liegt zwischen Awdijiwka und Donezk und ist wegen der Kämpfe und Landminen kaum zugänglich. Opytne, Juli 2019 / Foto © Anastasia Taylor-Lind

Anastasia Taylor-Lind
„Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“

[bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität.
Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.

Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.

Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.

Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.

Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.

Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.

Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.

Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von  Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen. 

Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“

I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.

I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023.
Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military.  
This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself. 

I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.

As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. 
I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.

Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. 
There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.

Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]

ANASTASIA TAYLOR-LIND

ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann. 

BÜCHER UND AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
UPCOMING  – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, London (ab 07.02.2023)
ONGOING – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, Manchester (14.10.22-02.01.23)
2022 – One Language [Gedichtband]
2014 – MAIDAN – Portraits from the Black Square 

PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.


Foto: Anastasia Taylor-Lind
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Textprotokoll: dekoder-Redaktion
Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder
Veröffentlicht am 20.10.2022

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