Bilder vom Krieg #3

Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ​​Jędrzej Nowicki

Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki

​​Jędrzej Nowicki
„Ein Funken Licht, selbst in dunkelsten Zeiten“

[bilingbox]Das Foto mit Glassplittern vor einem stark zerstörten Wohnblock im Bezirk Saltiwka in Charkiw hat mir wieder einmal gezeigt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einen Funken Licht gibt. Das Bild ist vom 19. März 2022. Charkiw befand sich damals mitten in einer brutalen Belagerung, und Saltiwka – einer der größten Schlafbezirke der Stadt – lag direkt an der Front. Tausende Bewohner von Charkiw lebten nur noch unter der Erde, die humanitäre Krise spitzte sich zu. Es war sehr bewegend und herzzerreißend, die zweitgrößte ukrainische Stadt zu dieser Zeit zu sehen. 

Fast zwei Monate später fuhr ich wieder dorthin. Die russischen Truppen waren zurückgedrängt worden, Menschen kehrten zu den Ruinen ihrer Häuser zurück, das Leben normalisierte sich wieder. Es ist eine neue Normalität, doch war sie nicht von Dauer. Während ich diesen Text schreibe, steht Charkiw unter schwerem Beschuss – niemand weiß, was das bedeutet. Ist es einfach eine Mahnung der Russen, dass sie noch da sind, oder wollen sie vielleicht einen zweiten Totalangriff auf Charkiw starten? Also fahre ich wieder mit Helm und kugelsicherer Weste durch die Stadt. Erkundige mich ständig bei Einheimischen nach den sichersten Routen und Stadtteilen, wo es weniger gefährlich ist zu arbeiten.

Kein einziges Leben wird zurückkommen, und es wird Jahrzehnte brauchen, bis dort wieder eine friedliche Region entstehen kann. Genau wie mein geliebtes Warschau Jahrzehnte brauchte, nachdem es vor 80 Jahren in Ruinen verwandelt wurde. Heute blüht der Flieder wieder und die Luft flirrt in den endlosen Sommernächten. Eine Stadt, die überlebt hat.

Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, immer Licht im Dunkel zu finden, treibt mich an als Fotograf und fasziniert mich als Mensch.~~~This photograph of shattered glass laying in front of a heavily damaged block in the Saltivka district of Kharkiv reminded me that even in the darkest times there always is a glimpse of light. The picture was taken on the 19th of March. Kharkiv was back then in the middle of a brutal siege and the Saltivka district – biggest dormitory suburb of the city – was its very frontline. Thousands of Kharkiv’s residents moved to live underground and humanitarian crisis was a pressing issue. To see Ukraine’s second-largest city at that time was a moving and rather heartbreaking experience. I decided to revisit Kharkiv after nearly 2 months. Russian troops had been pushed back, people started coming to their ruined houses, life was getting normal back again. New normality it is though and it is not given forever. As I’m writing this text now Kharkiv is being heavily shelled – no one knows what this might mean. Whether it’s just a reminder from Russians that they’re still there or maybe they will attempt to prepare a second full-scale attack on Kharkiv? So again I find myself driving around the city in a helmet and vest. Constantly checking with locals safest routes and neighbourhoods where it is relatively safe to work. 
No lives will be returned and rebuilding a peaceful region will take decades.  

As it took decades for my beloved city of Warsaw – turned into ruins some 80 years ago now blooming with lilac, with the air vibrating with the noise of endless summer nights. The city that survived. 
This deeply humane ability to always find light in darkness is what drives me as a photographer and fascinates me as a human being.[/bilingbox]

 

JĘDRZEJ NOWICKI

geboren 1995, lebt in Warschau/Polen
Er ist ein Dokumentarfotograf mit Fokus auf Osteuropa und bislang vor allem auf Belarus. Er hat auch im Nahen Osten und in Afrika gearbeitet.

AUSSTELLUNGEN, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

2021 – World Report Award
2021 – Luis Valtuena Award
2019 – Ian Parry Scholarship

PUBLIKATIONEN
Le Monde, Die Zeit, Newsweek, The Guardian, The Wall Street Journal  uvm.


Foto: ​​Jędrzej Nowicki
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
Veröffentlicht am 02.06.2022

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