Lukaschenkos Rollenspiele

Fünf Stunden soll das Treffen zwischen dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin am vergangenen Freitag in Moskau gedauert haben. Was hinter verschlossenen Türen genau besprochen wurde, drang im Detail nicht an die Öffentlichkeit. Natalja Eismont, Sprecherin von Lukaschenko, ließ verlautbaren, dass man „sich auf gemeinsame Schritte zur gegenseitigen Unterstützung im Zusammenhang mit dem Sanktionsdruck, einschließlich der Energiepreise“ geeinigt habe. Zudem habe Russland „ernsthafte und noch nie dagewesene Schritte unternommen, um die Wirtschaft unseres Landes zu unterstützen“. Weiterhin soll Belarus moderne russische Militärtechnik erhalten.

Experten halten es für möglich, dass Putin Lukaschenko in die russische Hauptstadt gerufen hatte, um seinen Kollegen zum Eingreifen von belarussischen Truppen im Krieg gegen die Ukraine zu drängen. Auch vor dem Hintergrund, dass der Vorstoß der russischen Truppen bis jetzt möglicherweise nicht so verläuft, wie sich der Kreml das vorgestellt hat. Hinweise für strategische Fehler gibt es zahlreiche, zudem scheinen die Verluste unter russischen Soldaten unerwartet hoch zu sein. Auch aus Belarus gibt es Meldungen, dass nicht nur die dortigen Krankenhäuser und medizinischen Dienste an ihre Leistungsgrenze kommen, sondern auch die örtlichen Leichenhallen

Während des Treffens kam es im belarussischen Luftraum, nahe der ukrainischen Grenze, zu einem Vorfall, bei dem russische Flugzeuge angeblich belarussische Dörfer beschossen haben sollen. Die ukrainische Führung witterte in dem Vorfall eine mögliche „False Flag“-Operation Russlands, um der belarussischen Staatsführung einen Anlass zu konstruieren, direkt in den Krieg einzugreifen. Daraufhin vermeldeten verschiedene ukrainische Medien, dass Lukaschenko um 21 Uhr (Kiewer Zeit) angreifen würde. Der Angriff blieb aus. Es gibt Anzeichen, dass Lukaschenko mitunter einer Hinhaltetaktik folgt und versucht, sich auch rhetorisch in dieser scheinbar für ihn ausweglosen Situation verschiedene Stoßrichtungen offenzuhalten.

Ob er damit im Angesicht der Macht des Kreml überhaupt erfolgreich sein kann? Ob er nicht letzten Endes doch in den Krieg eingreift, was dies für Belarus bedeuten würde und was Lukaschenkos Versuch bedeutet, sich im Rahmen der russisch-ukrainischen Verhandlungen nach 2014 abermals als Friedensvermittler zu präsentieren – über all diese Fragen wird in den belarussischen Medien intensiv diskutiert. Wir bringen eine Auswahl an Stimmen.

SN Plus: „Für alle Fälle und Lebenslagen“

Bei seinem Treffen mit Wladimir Putin habe sich Alexander Lukaschenko für alle Fälle, die ihm der Krieg noch einbringen könnte, rhetorisch gewappnet, meint der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch in seiner Analyse für das belarussische Medium SN Plus

Vor allem war es für Putin wichtig, sich zum ersten Mal seit Kriegsbeginn mit dem Leader eines Staates zu treffen, der ihn unterstützt. In der heutigen Zeit ist das eine ziemliche Seltenheit. Vor dem Hintergrund durchweg schlechter Nachrichten braucht selbst der russische Präsident eine positive psychologische Therapie.

Doch ich denke, der Hauptsinn dieser Gespräche lag woanders: Putin hat Lukaschenko höchstwahrscheinlich antanzen lassen, um eine aktivere Teilnahme von Belarus am Krieg zu besprechen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der russische Präsident entschieden hat, 16.000 „Freiwillige“ aus dem Nahen Osten als Kämpfer anzuwerben. Das bedeutet, dass es Putin in diesem Krieg an menschlichen Ressourcen mangelt. Doch wozu Araber einladen, wenn hier um die Ecke Belarussen sind, und ein Lukaschenko, der oft versprochen hat, Russland mit voller Kraft zu unterstützen.

Lukaschenkos Äußerungen im öffentlichen Teil des Treffens mit Putin waren ein Meisterwerk der politischen Mimikry. Alle erforderlichen Rituale wurden ausgeführt, um dem Verbündeten Ergebenheit zu demonstrieren. Man kann sie sowohl als Rechtfertigung für Russlands Angriff auf die Ukraine lesen oder auch als Grundlage für eine direkte Kriegsbeteiligung von Belarus. Doch seine Äußerungen waren wie immer widersprüchlich und konfus. […] 

Lukaschenkos Geschichte über irgendwelche obskuren Söldner, die sich angeblich entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze auf das Atomkraftwerk Tschernobyl zubewegen, klingt unheilvoll. Allem Anschein nach wurde die ganze Geschichte mit den schrecklichen Söldnern erfunden für den Fall, dass es [Lukaschenko] nicht gelingt, sich aus Forderungen Russlands nach einem Einmarsch belarussischer Truppen in die Ukraine herauszuwinden. Dann würde man sagen, dass die Belarussen dort eindringen, um das Atomkraftwerk zu schützen. So wäre es keine Aggression gegen den Nachbarn, sondern ein humanitärer Akt, um die Menschheit vor dem atomaren Armageddon zu schützen.

So hat Lukaschenko schon vorab beliebigen gegensätzlichen Handlungsoptionen den Grund bereitet. Für alle Fälle und Lebenslagen. Wenn er nicht zu seinen Worten steht, dann lassen sich beliebige surreale Bilder zeichnen, ohne Sorge um den eigenen Ruf. 

Bald erfahren wir, ob es Putin gelungen ist Lukaschenko breitzuschlagen, dass Belarus eine aktivere Rolle in diesem beschämenden Krieg übernimmt. 

Original, 11.03.2022


Zerkalo.io: „Die wichtigsten Fragen entscheidet Moskau“

Für das belarussische Online-Portal Zerkalo.io beschäftigt sich unter anderem der Politikanalyst Rygor Astapenja mit der Frage, wie sich Lukaschenkos Verstrickung in den Krieg auf die Innenpolitik des Landes auswirken wird.

Wenn Lukaschenko das Land früher noch mit Moskau im Blick regierte, so scheint es jetzt, als würden einige Dinge in Belarus direkt von Russland geleitet. Die Verlegung russischer Truppen auf unser Staatsgebiet etwa und der Beschuss der Ukraine von belarussischem Gebiet aus – das hat Lukaschenko nicht mehr unter Kontrolle. Die Beziehungen zu Russland erinnern an sowjetische Zeiten. Die wichtigen Fragen entscheidet Moskau.

Dass die Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien in Belarus stattfinden, rettet unser Land nicht vor der Beschuldigung an der Mittäterschaft bei der Aggression. Der Schatten dieser Anschuldigung legt sich auf alle, auf jene, die zu dem Regime halten, wie auch auf jene, die gegen das Regime sind.

Die belarussische Frage ist wegen des Krieges logischerweise von der internationalen Tagesordnung gerutscht. Die Opfer und die Zerstörungen lösen mehr internationales Mitgefühl und Teilnahme aus als die Opfer des Regimes in Belarus. Durch die Dimensionen des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine droht eine humanitäre Katastrophe, vor deren Hintergrund das Problem der politischen Gefangenen und der Repressionen in Belarus an Gewicht verlieren.

Original, 10.03.2022


Salidarnasc/Gazeta.by: Lukaschenko als neuerlicher Friedensstifter?

Pawel Mazukewitsch, belarussischer Politikanalyst und ehemaliger Mitarbeiter des Außenministeriums, erörtert in einem Beitrag für den Telegram-Kanal Puls Lenina, den das Online-Portal Salidarnasc/Gazeta.by in einem Auszug bringt, warum Lukaschenkos Versuche, sich neuerlich als Vermittler darstellen zu wollen, kaum von Erfolg gekrönt sein dürften.

Es liegt auf der Hand, dass Alexander Lukaschenko Belarus als Verhandlungsort reanimieren will, um seine Reputation als Schurke und Aggressor durch etwas Anständiges aufzubessern.

Die Tatsache allerdings, dass in Belarus bereits drei russisch-ukrainische Verhandlungsrunden stattgefunden haben (am 28. Februar sowie am 3. und 7. März), macht aus unserem Land noch keine Friedensplattform. Solange sich auf belarussischem Territorium russische Truppen befinden, wird Belarus nicht mehr als die Adresse sein, an dem die Treffen stattfinden.

[…]

Keine geringe Rolle bei der Wahl dieser Adresse spielen logistische Überlegungen. Für die beteiligten Parteien ist es näher und bequemer nach Belarus zu fahren. Aus Kyjiw fliegen keine Flugzeuge, aus Moskau kommst du mit dem Flugzeug nicht weiter nach Westen als nach Belarus.

Es gibt auch noch weitere Motive. Die Russen fühlen sich in Belarus wie die Hausherren, ihre Truppen stehen hier. Die Ukrainer haben ihre eigenen Motive. Ich teile die Ansicht, dass allein schon die Tatsache, dass die Verhandlungen in Belarus stattfinden, die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens des belarussischen Militärs verringert. Obwohl diese Nichtbeteiligung eher auf die Interessen des Kreml zurückzuführen ist, der in dieser Phase ein vermittelndes Belarus nötiger hat als ein kriegführendes.

Die Front ist mittlerweile eine echte Kriegsfront, die russischen Streitkräfte greifen seit zwei Wochen von Belarus aus die Ukraine an und beschießen sie, und Lukaschenko schafft weiterhin Munition herbei.

Allen Anzeichen nach hat er nicht vor, sich aus dem Schatten des Kreml herauszubewegen und einen Abzug der russischen Truppen zu fordern. Auch wenn nur auf diesem Wege ein Friedenspferd zu satteln wäre, auf dem Belarus und womöglich die gesamte Welt aus dem Krieg herausgeführt werden würde, aus einem Krieg, der sich zu einem Weltkrieg entwickeln könnte.

Original, 11.03.2022


Salidarnasc/Gazeta.by: Nuancen in der Rhetorik Lukaschenkos

Pawel Sljunkin, ehemaliger Mitarbeiter des belarussischen Außenministeriums, äußert sich in einem Kommentar für das belarussische Online-Portal Salidarnasc/Gazeta.by zur möglichen Taktik Lukaschenkos, die eigene Aggressorrolle abzuschwächen.

Noch sieht es nicht so schlecht aus für Lukaschenko. Noch benötigt der Kreml keine Beteiligung der belarussischen Streitkräfte am Krieg. Noch übt er, also Putin, auf Lukaschenko nicht den Druck aus, den er ausüben könnte. 

[…]

Allen ist klar, dass Lukaschenko weder Friedensstifter noch eine dritte Partei ist, noch eine neutrale Plattform. Er ist ebenso Aggressor wie Russland. Doch wichtig sind hier die Nuancen.

Lukaschenko versucht mit seiner Unterstützung für Friedensverhandlungen das wegzuwischen, was er nicht verhindern kann, nämlich den Umstand, dass Russland das belarussische Staatsgebiet zum Überfall auf die Ukraine nutzt.

Und das bringt ihm gewisse Früchte ein. Die Sanktionen gegen ihn sind nicht so heftig ausgefallen wie die gegen Russland. Wenn man vorgehabt hätte, die belarussische Wirtschaft abzuwürgen, dann hätte man das schneller geschafft als bei der russischen Wirtschaft. Noch allerdings geschieht das nicht. Und darauf wird Lukaschenko weiter spekulieren.

Original, 08.03.2022


Naviny.by: „Die Explosion des Unmuts in der Gesellschaft verhindern”

Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski ist in seinem Stück für Naviny.by der Meinung, dass Lukaschenkos Hauptstrategie es sein könnte, die direkte Beteiligung am Krieg, also die Entsendung eigener Truppen, zu verhindern.

2014 hatte sich Lukaschenko merklich von der Politik des Kreml distanzieren können, als dieser die Krim eroberte und den Aufruhr im Donbass anzettelte. Durch diese besondere Haltung konnte Minsk seinerzeit die Beziehungen zum Westen merklich korrigieren.

Gibt es für Lukaschenko jetzt die Chance, einen ähnlichen geopolitischen Trick anzuwenden, damit er nicht zusammen mit dem Regime im Kreml untergeht?

Man möchte meinen, dass eine solche Chance nahezu ausgeschlossen ist. Die Abhängigkeit von Russland ist heute ungleich stärker. Stellen wir uns nur einmal vor, Lukaschenko würde jetzt den Abzug der russischen Truppen aus Belarus fordern. Dann würde Putin ihn wohl einfach von der politischen Bühne fegen. Es besteht kein Zweifel, dass der Kreml hierfür brutal und rücksichtslos genug ist.

[…] Nach den Ereignissen von 2020, als offensichtlich wurde, dass Lukaschenko den Rückhalt eines riesigen Teils der belarussischen Bevölkerung verloren hat, hängt sein Verbleib an der Macht vollkommen von der Gnade des Kreml ab.

Daher besteht das Maximum, das Lukaschenko jetzt erreichen kann, darin, nach Möglichkeit eine direkte Beteiligung der belarussischen Armee an den Kämpfen gegen die Ukrainer zu vermeiden. Um, wie er sich erhofft, seine Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression und folglich die Härte der Sanktionen zu reduzieren. Und um eine Explosion des Unmuts in der Gesellschaft abzuwenden.

Auf jeden Fall fehlt dem derzeitigen Anführer des belarussischen Regimes die Kraft, um jene Bande zu sprengen oder wenigstens zu lösen, durch die Minsk an Moskau gekettet ist.

Original, 10.03.2022

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