Der Fall Kamila Walijewa

Nach fünfeinhalbstündigen Videoanhörungen in der Nacht zum Montag hat der Sportsgerichtshof CAS entschieden: Die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf weiter an Olympia teilnehmen. Am 8. Februar – ausgerechnet einen Tag, nachdem die russische Mannschaft im Teamwettbewerb Gold gewonnen hatte – war die Nachricht gekommen, dass Kamila Walijewa am 25. Dezember vergangenen Jahres positiv auf Trimetazidin getestet worden war. 

Dies hatte für viel Aufsehen gesorgt. Sowieso können russische Athleten bei Olympia nicht unter russischer Flagge antreten, sondern als Vertreter des ROC (Russischen Olympischen Komitees) – weil Russland wegen der Manipulation von Doping-Daten von der Welt-Doping-Agentur (Wada) gesperrt wurde. Zudem gilt die positiv getestete 15-jährige Walijewa als Eiskunstlauf-Ausnahmetalent. Im Teamwettbewerb brillierte sie mit gleich zwei Vierfachsprüngen, was Kommentatoren zu Vergleichen mit den Eislauf-Männern hinriss; nach ihrem Kurzprogramm jubelte auch Hollywood-Star Alec Baldwin auf Instagram: „Ein Lied. Ein Gedicht. Ein Gemälde.“ 

Der Sportsgerichtshof hat nun allerdings nur über eine Sperre Walijewas und nicht über den Dopingfall generell entschieden. Es kann immer noch passieren, dass dem ROC-Team wie auch Walijewa im Nachgang zu den Olypmpischen Spielen Medaillen aberkannt werden.
Die Aufregung um die 15-jährige Walijewa – die als Minderjährige im Sinn des Welt-Anti-Doping-Codes als „geschützte Person“ gilt – hat außerdem eine Debatte um das Alter der Eiskunstläuferinnen ausgelöst. Die ehemalige Eiskunstläuferin und zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb auf Facebook: „Vielleicht sollte das Alter für die Teilnahme auf der olympischen Weltbühne auf 18 Jahre festgelegt werden. Wäre es nicht richtig, ein Kind reifen zu lassen?“ Für 15-Jährige seien die Youth Olympic Games ins Leben gerufen worden.

Auch in russischen Medien hat der Fall Kamila Walijewa eine Debatte über die zunehmend jungen Athletinnen ausgelöst, die auch in Sozialen Medien lebhaft geführt wird. Für Kirill Schulika auf Republic ist diese Frage die entscheidende.

Kamila Walijewa und ihre Trainerin Eteri Tutberidse (rechts). © Foto Alexander Kasakow/Kommersant

Für Kamila Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse gibt es noch schlimmere Nachrichten als Walijewas Dopingtest: Beim internationalen Eislaufkongress der ISU 2022 soll darüber beraten werden, die Altersgrenze im Eiskunstlauf schrittweise anzuheben. In der nächsten Saison soll das Eintrittsalter zum Erwachsenen-Wettbewerb in allen Disziplinen noch bei 15 Jahren bleiben, dann soll es nach und nach erhöht werden: in der Saison 2023/24 auf 16 Jahre, 2024/25 auf 17. 
Damit will die Union Tutberidses „Kindergarten“ einen niederschmetternden Schlag versetzen. Fans ihres Trainerinnen-Talents halten das natürlich für eine Verschwörung der Konkurrenz. Zumal diese Trainerin in Russland über jede Kritik erhaben ist. Ja, manchmal gibt es Zoff mit dem mehrfachen Eislauf-Olympiasieger Jewgeni Pljuschtschenko und vor allem seiner Frau Jana Rudkowskaja, aber das wirkt eher wie ein banaler Social-Media-Hype um Gnom Gnomytsch, [Spitzname vom] Sohn der beiden.   
Warum aber darf man Tutberidses Methoden nicht öffentlich anzweifeln? In der Sportwelt herrscht die Meinung, sie werde von der Eiskunstläuferin Tatjana Nawka protegiert – die ist die Gattin von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. 

„Tutberidse entwickelt keine großen Sportlegenden. Sie trainiert Sprünge“

Aber wenn im Wettbewerb der Erwachsenen eine 15-Jährige die olympische Eisfläche betritt, scheint es doch, als würde Tutberidse ihre Schützlinge nicht trainieren, sondern dressieren. Und, oh weh, später geraten diese Sportlerinnen dann leider in Vergessenheit. Wer kennt jetzt noch Julia Lipnizkaja [geboren 1998, war 2014 Europameisterin und mit der russischen Mannschaft Olympiasiegerin als bis dahin jüngste Eisläuferin – dek]? Sie ist gerade mal 23, hat ihre Karriere aber schon mit 19 beendet! Auch die Olympiasiegerin von 2018 in Pyeongchang  Alina Sagitowa stand mit 19 Jahren am Ende ihrer Laufbahn. Während etwa die legendäre Italienerin Carolina Kostner bis ins Alter von 32 aktiv war.

Offenbar ist aus dem Frauen-Eiskunstlauf mittlerweile ein Kinderwettkampf geworden. Tutberidse entwickelt auch keine großen Sportlegenden wie Kostner oder Pljuschtschenko. Sie trainiert Sprünge, damit ihre Zöglinge die höchsten Punktzahlen und Preise absahnen. Die olympische Idee ist eigentlich eine andere.  
Das Geheimnis von Tutberidses Erfolg liegt einzig und allein im Alter ihrer Sportlerinnen. Vierfachsprünge schaffen nur Mädchen, deren Körper noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn also ein solcher Sprung zu einem Element wird, ohne das man keine großen Wettbewerbe mehr gewinnen kann, dann ist der Eiskunstlauf für Mädchen über 18 vorbei.           

Außerdem muss eine Eiskunstläuferin enorm viel Kraft aufwenden, um bei einem Vierfachsprung den Moment des vertikalen Absprungs von der Eisfläche mit dem Beginn der Drehung zu verbinden. Die nötige Rotation kann aufgrund des weiblichen Körperbaus – breitere Hüften und geringere Sprungkraft als bei den Männern – nicht erreicht werden, sodass Frauen bei Vierfachsprüngen den Rumpf schon vor dem Absprung zu drehen beginnen, was sehr gefährlich für die Wirbelsäule ist. 

„Dem System ist ganz egal, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird“

Die finnische Eiskunstläuferin Kiira Korpi, die nach dem Ende ihrer Karriere Sportpsychologin wurde, formuliert noch einen weiteren für Kinder gefährlichen Aspekt des Eiskunstlaufs: „Ich kenne viele Sportler, die emotional und körperlich gebrochen sind, weil dem System ganz egal ist, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird, solange es ein paar gibt, die den Ansprüchen gerecht werden. Aber am schlimmsten ist, dass auch jene, die es schaffen, nur wenige Jahre dabeibleiben und dann ebenfalls aussortiert werden – weil sie angeblich zu alt sind, weiterzumachen. Eteris ‚Kinderfabrik‘ ist einfach nur eine Folge der unmenschlichen Kultur unserer Sportart. Das war nicht ihre Idee. Viele Trainer arbeiten auf ähnliche Art und Weise, und viele Verbände begrüßen solche Methoden des Nachwuchstrainings“, meint Korpi.      

Jetzt kümmern sich anscheinend auch die Sportfunktionäre um dieses Problem. Russland wird sicher dagegen sein und möglicherweise seine lobbyistischen Ressourcen im ISU einsetzen. In der Öffentlichkeit werden uns alle, von Tatjana Nawka bis zu Tatjana Tarassowa, von einer Verschwörung gegen den russischen Sport und vom Neid auf die Erfolge „unserer Mädels“ erzählen. Und wenn der Skandal um Walijewa weiter an Fahrt  aufnimmt, dann werden wir bestimmt auch zu hören kriegen, dass ihr die verbotene Substanz heimlich verabreicht oder die Blutprobe vertauscht wurde, um die russische Schule der Eiskunstläuferinnen in Verruf zu bringen.

Nichts kann jedoch den russischen Sport nachhaltiger zerstören, vor allem wenn es praktisch um Kinder geht, als wenn Ärzte wie Philipp Schwetski mit im Boot sind, die nachgewiesenermaßen Sportlerinnen mit Dopingsubstanzen versorgt haben. 
Das Mindestalter der Eiskunstläuferinnen wird bestimmt angehoben. Und eines der Argumente dafür wird die Geschichte von Kamila Walijewa und dem Trimetazidin sein, für dessen Einnahme sie [als unter 16-Jährige – dek] nicht bestraft und nicht einmal offiziell angeklagt werden darf.  

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