Liquidierung des Gedenkens

„Ein Schock“ – so reagiert die deutsche Sektion der Menschenrechtsorganisation Memorial auf die Nachricht vom Donnerstag, 11. November: Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat an diesem Tag die Auflösung der NGO gefordert, die Verhandlung ist für den 25. November angesetzt, wie die Menschenrechtsorganisation auf ihrer Seite berichtet. 

Memorial macht sich seit der Perestroika vor allem auch für eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit stark. Die NGO ist regelmäßig Ziel von Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der russischen Behörden. Seit 2014 steht das Menschenrechtszentrum von Memorial auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“. 2016 bekam auch die gesamte Organisation das Stigma angeheftet.  

Für Oleg Kaschin sind das alles keine Einzelfälle mehr, sondern Episoden einer regelrechten Vernichtungskampagne. Wie auch für zahlreiche andere Beobachter ist die Logik dahinter für Kaschin „klar und nachvollziehbar“: Der Kreml strebe nach einem Monopol der Erinnerungskultur, Konkurrenten auszuschalten gehöre da einfach dazu. Warum Säuberungen auf dem Feld der Erinnerungskultur aber nicht funktionieren können – das zeigt der Journalist auf Republic.   

Die drohende Liquidierung von Memorial fällt aus dem Rahmen der sonstigen staatlichen Attacken auf gesellschaftliche Institutionen und wirkt beispiellos und einzigartig; für den Staat verständlich ausgedrückt hieße das: Genauso gut hätte man eine altehrwürdige Kirche abreißen, ein ewiges Feuer löschen oder ein Grab schänden können. Alle bisherigen Pogromaktionen gegen politische und gemeinnützige Organisationen, Medienredaktionen, Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen gingen – so schmerzvoll sie auch gewesen sein mögen – nicht über das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Staat und denjenigen hinaus, die nicht gefallen. Aber hier kommt nun außer dem Staat und denjenigen, die er zerstört, noch ein drittes Subjekt hinzu – ein körperloses, ätherisches, und trotzdem äußerst auffälliges, markantes. 

Es geht um die Strafe für historisches Erinnern

In diesem neuen Kapitel geht es um die die Bestrafung des historischen Erinnerns. Natürlich ist da noch der Aspekt unserer ewigen verfluchten Unsicherheit: Theoretisch wäre es denkbar, dass irgendein glubschäugiger Beamter, der den Kontext nicht kapiert, auf seinem Zettelchen gelesen hat, dass da irgendwelche Menschenrechtler gegen die Auflagen für „ausländische Agenten“ verstoßen, eine Resolution verhängt, und der seelenlose Mechanismus setzt sich seelenlos knarzend in Bewegung. Doch die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erklärung ist zugegebenermaßen verschwindend gering, und die Rede ist eben nicht von einem seelenlosen Mechanismus, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut, die alles verstehen, die einen Kopf und ein Herz und Hände haben (und zwar einen kühlen, ein warmes und saubere, wie es im Märchenbuch dieses Berufsstandes gleich zu Anfang heißt). Und eine Seele haben sie auch – nur dass sie schwarz ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt.

Jede einzelne Episode des Drucks auf Memorial ließe sich als ein Einzelfall beschreiben: Der Fall Ojub Titijew in Grosny – klar, Tschetschenien, Kadyrow rechnet mit seinen Feinden ab. Der Fall Juri Dmitrijew in Karelien – auch klar, hier geht es um Dmitrijew selbst, vielleicht sind hier persönliche Rechnungen offen, vielleicht gibt es ja wirklich keinen Rauch ohne Feuer, jedenfalls ein Einzelfall, kein System. Auch als Ljudmila Ulitzkaja Brillantgrün ins Gesicht gespritzt wurde, ließ sich das erklären: Der Kreml hat sich im Spiel mit den Gopniki vergessen, mit ihnen gemeinsame Sache gemacht, Putin war außer sich vor Zorn, als er davon hörte, jetzt kriegt man jemanden dran und damit hat sich die Sache. Kürzlich dann der Skandal, als der Film Gareth Jones gezeigt wurde (die Entscheidung über die Liquidierung von Memorial lag da vermutlich bereits auf irgendeinem Schreibtisch und wartete darauf, abgesegnet zu werden) – selbst dieser Vorfall, als Halbstarke den Saal stürmten, in Begleitung eines Fernsehteams von NTW und der Polizei, die die Tür mit Handschellen versperrte und die Personalien aufnahm – selbst dieser Unsinn ging nicht über die mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen „lokalen Auswüchse“ hinaus. 

Als das Oberste Gericht vor sieben Jahren bereits einmal einen Antrag auf die Liquidierung von Memorial prüfte, erklärte der damalige Leiter Arseni Roginski, ein Dissident mit noch sowjetischer Prägung, das sei kein großes Drama – es gebe viele Projekte, viele juristische Personen, das Ökosystem sei riesig und es sei wohl kaum jemand in der Lage, es vollends zu zerstören. Jetzt ist Roginski nicht mehr da, er ist gestorben, und gestorben sind auch die Zweifel, was die Kräfte und Möglichkeiten des Gegners angeht – längst ist klar, dass es keine Festungen gibt, die diese Leute nicht einnehmen könnten. Der Liquidierungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Oberste Gericht verbindet alle bisherigen Auswüchse zu einer einzigen großen Vernichtungsoperation. Das war auch so klar, aber jetzt ist es offiziell bestätigt.

Denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes …

Wir wollen das Verhältnis zwischen den Erben des NKWD und den Erben seiner Opfer nicht einfacher machen, als es ist. Natürlich schüttelt es unsere Staatssicherheit, wenn sie das Wort „Menschenrechtler“ nur hört. Das war schon Mitte der 1990er Jahre so, und der durchschnittliche russische Silowik wird dir, wenn du ihn fragst, voller Überzeugung erzählen, wie Sergej Adamowitsch Kowaljow (Vorsitzender von Memorial in den 1990er Jahren) unseren Jungs in Tschetschenien in den Rücken geschossen hat. Seit dem Krieg ist die Liste der Vorwürfe eines durchschnittlichen Silowik oder eines durchschnittlich Loyalisten oder Patrioten gegen Memorial um weit mehr als einen Punkt gewachsen: die LGBT-Frage, der Georgienkrieg, der Donbass und vieles andere mehr. Ja sogar der Film, dessen Vorführung im Memorial-Büro vor sechs Wochen gesprengt wurde, war ein polnischer Film über den Holodomor in der Ukraine, den das offizielle Russland bestreitet. Schaut man also durch ein Fenster in der Lubjanka oder im Kreml auf Memorial, sieht man da eine echt feindliche Organisation.

Ein echter Feind in allen Belangen, und vermutlich hätten sie ihn schon 1999 oder sagen wir Mitte der 2000er ausgeschaltet, so wie Lew Ponomarjows NGO Sa prawa tscheloweka [dt. Für Menschenrechte] oder Limonows Partei oder die ganzen anderen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, und wir verstehen auch, was: die in der Erde verscharrten Knochen, der Solowezki-Stein, die verrottenden Lagertürme in der Tundra und in den Wäldern, die Maske der Trauer in Magadan, der Butowski Poligon und die Kommunarka. Ja sogar Solschenizyn und Ljudmila Alexejewa, die sie mit Sicherheit auch verachtet und gehasst haben, aber tief in eurem Inneren habt ihr gespürt, dass man ihnen nicht feindlich gegenüberstehen darf – denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes, dessen Führung euch nun zugefallen ist und die ihr immer noch, gelinde gesagt, ein wenig fürchtet. Deshalb habt ihr Denkmäler und Museen eingeweiht, und Neumärtyrer-Kirchen, und deshalb habt ihr es ertragen, musstet es ertragen, habt Memorial ertragen, seine euch unangenehme Positionen bis hin zur LGBT-Frage. Habt es ertragen, doch nun ist Schluss. Gesunken, ja, gefallen ist die psychische Hemmschwelle. Gestern durfte man nicht, aber heute darf man. Habt ihr vielleicht kapiert, dass Ljudmila Alexejewa nicht mehr bei euch anrufen wird.

Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will

Und, ja, Gareth Jones wird nun nicht mehr gezeigt werden, und womöglich ist das total egal, aber bald wird auch die Website gesperrt sein, der die Menschen alljährlich Ende Oktober die Namen der Toten entnehmen, um sie am Solowezki-Stein vorzulesen, und dann werden eines Tages Forscher der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft den Beweis erbringen, dass die Deutschen im Herbst 1941 bis zur Kommunarka vorgedrungen sind, und dort in den Gräben in Wirklichkeit sowjetische Partisanen liegen (und das ist gar nicht mal unbedingt eine Metapher – wie wir wissen, ist es mit Sandarmoch im Fall Dmitrijew fast genauso passiert).

Vernichtet wird ein historisches Institut, das noch von Andrej Sacharow gegründet wurde

Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will. Memorial & Co sind für sie seit einiger Zeit nicht bloß Gegenspieler, sondern Rivalen. Rivalen, mit denen man bei Gelegenheit bis zur Vernichtung kämpft. Die Logik ist klar und nachvollziehbar. Aber dennoch – Erinnern ist kein Marktplatz, es ist Metaphysik, und auf diesem Spielfeld mit den Methoden klassischer staatlicher Säuberungen vorzugehen ist gefährlich und unberechenbar. Indem sie sich Memorial entledigen, entwerten sie auch die eigene Version der Geschichte – keinen Groschen ist sie wert, wenn man für ihre Untermauerung ein ganzes historisches Institut vernichten muss, das übrigens noch von Andrej Sacharow begründet wurde.

Aber selbst Sacharow ist bei denen jetzt nur noch der Erfinder der Wasserstoffbombe und dreifacher Held der sozialistischen Arbeit.

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