Blick in das Innere von Belarus

Bunt bestickte Kissen und Tücher, Teppiche an den Wänden, grelle Fototapeten und Plüschtiere, Gardinen mit traditionellen Mustern und Ornamenten – dazwischen ältere Frauen mit Kopftüchern oder Männer mit Schirmmütze. Der belarussische Fotograf Andrei Liankevich reist seit Jahren durch seine Heimat und fotografiert die traditionellen Inneneinrichtungen und Wohnräume von Dorfbewohnern, die sich durch eine Mischung aus Folklore, Tradition und Modernität auszeichnen und viel über das ländliche Belarus erzählen. Es ist eine Kultur, die zusehends verschwindet. 

Liankevich, der mehrfach für seine Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, hat sich vorgenommen, diese Kultur fotografisch zu bewahren. In seiner Fotografie und Kunst beschäftigt er sich häufig mit Fragen von Identität, Brauchtum und archaischen Ritualen in seiner Heimat. Für sein Buch Pahanstwa dokumentierte er beispielsweise heidnische Riten, die sich bis heute in Belarus erhalten haben.

Mohnblumen auf Tassen und Tischdecken: Bei Wjaljanzіna Wassiljeuna Tscharnuschewitsch, zuhause im Dorf Chwajensk im Süden von Belarus / Foto © Andrei Liankevich

dekoder: Wie ist Ihr Fotoprojekt  Traditioneller Wohnraum entstanden?

Andrei Liankevich: Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ich bei der Arbeit an anderen Fotoprojekten wie beispielsweise Pahanstwa (dt. Heidentum) beobachten, wie das belarussische Dorf sozusagen visuell verschwindet: die Farben der Häuser und Einrichtungen, die alte Art, Wohnraum gemütlich zu gestalten, die Wände mit den Familienfotos. Damit verschwindet auch die Bedeutung der Familie, in der die Traditionen und ein bestimmtes Wertesystem wichtig waren. In jedem Haus gab es eine Bilderwand mit Ikonen und Fotos aller Verwandten; gestickte oder handgenähte Ruschniki und Bilder, handgewebte oder handgeknüpfte Wandteppiche. Diese Kultur verschwindet zusehends, zusammen mit der ältesten Generation. Wenn die Großmutter stirbt, werfen die Kinder und Enkel praktisch alles weg und renovieren das Haus nach ihrem Geschmack, bis die alte Ästhetik vollständig zerstört ist. 
Und mir als Fotograf ist klar: Wenn dieses Thema in Belarus niemand aufgreift, wenn das niemand dokumentiert und systematisiert, dann wird eine riesige Inselwelt der visuellen Kultur verlorengehen. Im Moment liegt das Projekt wegen Corona natürlich brach: Wenn ich, Gott behüte, infiziert in ein Dorf kommen würde, dann würde im schlimmsten Fall das ganze Dorf sterben.

Wie finden Sie die Häuser mit solch außergewöhnlichen Einrichtungen?

In jedem meiner Projekte gibt es eine Art Lotsen. In diesem Fall begann alles mit der alten Kazjaryna Pantschenja aus dem Dorf Pahost, das im Südosten von Belarus liegt. Mit ihr verbindet mich eine herzliche Freundschaft. Ihr stehen im Umkreis von 50 Kilometern alle Türen offen! Als Respektsperson kommt sie wirklich überall rein, alle kennen sie. Sie sagt dann einfach mal: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“
Für mich ist das ein großes Glück, weil ich nicht stundenlang alles erklären und Vertrauen aufbauen muss. Das verkürzt die Aufwärmphase auf fünf Minuten, und das ist viel wert: So kann ich pro Tag sieben bis zehn Fotos machen. Wenn ich einfach die Dörfer abklappern würde, würde ich eine, höchstens zwei Sessions pro Tag schaffen. 
Außerdem ist es wichtig, überraschend bei den Leuten aufzutauchen, dann sieht das Inventar natürlich aus. Manchmal verwandelt sich ein Haus vor deinen Augen in ein mustergültiges Vorzeigearrangement, alles wird aufgeräumt und geputzt – aber solche Fotos passen nicht in mein Projekt, die mache ich nur so und schenke sie den Hausbewohnern. Die Traditionellen Wohnräume sind etwas anderes. 
Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie. Ich möchte vielmehr zu den Wurzeln der Fotografie zurückkehren, den Dreck und die Details einfangen, die man normalerweise nicht sieht. Ganz zu Beginn war das der wichtigste Unterschied der Fotografie zur erhabenen Kunst der Malerei – das Festhalten und die Produktion von Realität in ihrer authentischen Form. 

Wie ist diese spezielle Form der Inneneinrichtung in Belarus entstanden?

Man kann sagen, es ist eine Kombination aus den materiellen und kreativen Möglichkeiten der Hausleute und den jeweiligen regionalen Traditionen. Aber es gibt definitiv immer Elemente, die in ganz Belarus gleich sind: sehr viele Familienfotos in einem gemeinsamen Rahmen, die praktisch alle Generationen zeigen, gestickte traditionelle Ornamente oder Alltagsszenen. Die Farben der Wände sind dagegen überall anders. Während man im östlichen Belarus immer bunte Tapeten hat und viele bunte, handgewebte Wandteppiche und Ruschniki aufhängt, sind die Wände im Westen einfarbig, meistens grün oder blau. Und weil zwei Kriege nicht nur die Menschen getötet, sondern auch ihre Holzhäuser zerstört haben, sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände ärmlich und spärlich und wiederholen sich oft von Haus zu Haus.

Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land – findet man diese Form der Einrichtung nur in Dörfern oder auch in Städten?

Wie in anderen Ländern ist auch in Belarus der Prozess der Urbanisierung, der vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges von der sowjetischen Führung vorangetrieben wurde, noch nicht abgeschlossen. Derzeit leben nur 25 Prozent der Menschen in Dörfern, drei Viertel der Bevölkerung sind Städter. 
Spricht man über die Dynamik, so war das in den letzten 60 Jahren eine Revolution: 1959 haben noch 5,5 Millionen Menschen im Dorf gelebt und 2,5 Millionen in der Stadt. Das heißt, heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Es kommt deswegen vor, dass die Kinder der Dorfbewohner die visuelle Kultur der älteren Generation auch in die Stadt mitgebracht haben. 

Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie in ihrem Wohnzimmer fotografieren wollen?

Na ja, für sie bin ich irgendein Herr Wichtig aus Minsk, der mit einem fertigen Foto im Kopf ankommt und nur ins Haus reingehen muss, den Bewohner hinsetzen, die Fenster schließen, damit das Licht stimmt – und fertig. Die Aufnahmen selbst sind schnell gemacht, fünf bis zehn, maximal 15 Minuten. Es gibt daher auch nicht wirklich ein Gespräch: Drehen Sie den Kopf, setzen Sie sich aufs Bett, danke für die Aufnahmen. Und wohin soll ich die Fotos schicken – denn praktisch alle Teilnehmer bekommen entwickelte Fotos geschenkt. In vielen Fällen waren die Leute schon gestorben, wenn ich ihnen ein paar Monate später die Fotos bringen wollte … 

Findet man auch bei der jüngeren Generation solche Inneneinrichtungen?

Ich glaube, es gibt bei uns kein Traditionsbewusstsein, und angesichts des rasenden Tempos der Urbanisierung fehlte das vielleicht schon von Anfang an. Jede Generation der letzten 100 Jahre hat gelernt, an einem neuen Ort zu leben, unter neuen Bedingungen und mit einem anderen Lebensstandard, und vor allem: immer in einem neuen Haus. Die Großeltern lebten in einem Holzhaus im Dorf, ihre Kinder zogen in ein Zimmer im Wohnheim oder in eine Chruschtschowka, deren Kinder wiederum wohnten erst mal in einer Mietwohnung und erwarben oft erst später Eigentum. Aber bevor sie einzogen, machten sie auf jeden Fall Euroremont, kauften Möbel von IKEA und brachten Hängedecken aus Plastik an. So ganz pauschal gesagt. Niemand wollte das alte Zeug erben, wo man sich doch in Belarus für eine ländliche Herkunft immer geniert hat, was ein zusätzlicher Grund dafür war, die visuelle Kultur des Dorfes hinter sich zu lassen. 
 

Zwischen bestickten Kissen auf dem Sofa: Wolha Nikalauena Mahnawez und ihr Ehemann, der das Dorfoberhaupt ist, in Kudrytschy / Foto © Andrei Liankevich
In Chwajensk: Tamara Lukjanauna Tscharnuschewitsch in ihrem Wohnzimmer / Foto © Andrei Liankevich
Matrona Filipauna Kaschkewitsch vor einer Panorama-Fototapete, in Pahost, mehr als 100 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Andrei Liankevich
Ruschniki, Kissen, Plüschtiere – Kazjaryna Pantschenja in Pahost. Wie Fotograf Liankevich im Interview erzählt, öffnete sie ihm viele Türen in den Dörfern im Umkreis: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“ / Foto © Andrei Liankevich
In Pahost Iwan Zimafejewitsch Shochna an einem Holztisch, hinter ihm ein Wandbild mit Fransen / Foto © Andrei Liankevich
Im Süden von Belarus, im Dorf Chlupin: Hanna Akimauna Totschka. Unter dem Rahmen mit Familienbildern hängt ein Zettel mit groß gedruckten Notrufnummern / Foto © Andrei Liankevich
Hanna Ryhorauna Shuk vor einer modern tapezierten Wand. Auf den Sesseln liegen traditionelle Häkeldeckchen, Saruddse / Foto © Andrei Liankevich
Im Dorf Láchauka: Hanna Kirylauna Tschapjalewitsch auf ihrem Sofa / Foto © Andrei Liankevich
Schwerer Wandteppich, leichte Kissen: Maryja Michailauna Sankewitsch in Pahost / Foto © Andrei Liankevich
Mit Zierkissen und Stickdecken lieber zurückhaltend: Iwan Iwanawitsch Lewanjuk in seinem Haus / Foto © Andrei Liankevich
Vor Kissenburgen: Wolha Dsmitryjeuna Jakuschewitsch im Dorf Tschernіtschy / Foto © Andrei Liankevich
Rotes Telefon, geblümte Gardinen: Maryja Paulauna Holad in Chwajensk  / Foto © Andrei Liankevich
„Im Westen sind die Wände einfarbig“, sagt der Fotograf Andrei Liankevich. Bei Maryja Filipauna Mamai im Dorf Saruddse sind sie in Brauntönen gehalten / Foto © Andrei Liankevich
Iryna Franzauna Simnizkaja in ihrem Haus im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Litauen vor holzvertäfelter Wand in Grün / Foto © Andrei Liankevich
„Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie“, sagt Liankevich. Krywitschy: Dorfbürgermeister Mikalai Serafimawitsch Lewadouski in seinem Haus / Foto © Andrei Liankevich
Kanstanzinauka im Nordwestenvon Belarus: Nadseja Iwanauna Katowitsch auf ihrem Sofa, das mit Häkeldeckchen dekoriert ist / Foto © Andrei Liankevich
Maryja Michailauna Kusmitsch mit ihrer Katze in ihrem Haus in Pahost / Foto © Andrei Liankevich
Ikonenbilder umhüllt von einem Ruschnik: Natalja Dsmitryjeuna Kusmitsch vor ihrer Küchenwand in Pahost / Foto © Andrei Liankevich
Zwischen geblümten Vorhängen: Michail Sacharawitsch Tschetschko in Pahost / Foto © Andrei Liankevich

Fotos: Andrei Liankevich
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Ruth Altenhofer
Text: dekoder-Team (das Interview wurde schriftlich geführt)
Veröffentlicht am 18.11.2021

Weitere Themen

Janka Kupala

Leben und Sterben

Soligorsk

Landschaft der Trauer

November: Einst war hier das Meer


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: