Das Zauberding

Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers.
Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.

© Instagram/carouselzarya
Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu. 

Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.   

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Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn.
Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft. 

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Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an. 

„Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“

Siggi, dreht die Kurbel des Karussells:
„Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“ 

„Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“

Sanjok, Erfinder des Karussells:
„In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. 
Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen.   
Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie.
Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“    

„Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“

Jura, DJ:
„Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht.     
Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage. 

Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.

„Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
  
Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.  

Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya

„Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“

Olelis:
„Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln.
Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.           

Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“

Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya

„Das Moskauer Meer“

„Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.

Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“

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