Schöne neue Welt?

Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen, wichtig sei, dass sie sich getroffen haben, sich alles wieder etwas normalisiere. Die eigentliche Arbeit gehe jetzt erst los. So könnte man im Großen und Ganzen die russischen wie deutschen Einschätzungen des Putin-Biden-Treffens am gestrigen Mittwoch, 16. Juni 2021, in Genf zusammenfassen. Dem ging unter anderem voraus, dass Biden im Frühjahr – noch ziemlich frisch im Amt – im TV die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit „Das tue ich“ beantwortet hatte.

Beim gestrigen Treffen in Genf nun einigten sich beide Staatschefs darauf, dass die jeweiligen abgezogenen Botschafter wieder nach Moskau und Washington zurückkehren, in Fragen der Rüstungskontrolle strebe man einen „Stabilitätsdialog“ an. Auch Gespräche über Cybersicherheit seien geplant. Biden sagte zudem, man habe Russland klargemacht, dass die USA Menschenrechtsverletzungen weiterhin kritisieren würden.

Nach dem Treffen betonten beide Staatschefs in getrennten Pressekonferenzen den konstruktiven Ton der Zusammenkunft. US-Präsident Biden fasste zusammen, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe. Inwiefern das Treffen dennoch restaurativen Charakter trage und an Zeiten der alten Bipolarität erinnere – das kommentiert Alexander Baunow auf Carnegie.ru.

Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0

Auch die Russen lieben ihre Kinder – dieser Satz war ein Vorbote für das Ende des Kalten Krieges. Nach dem Gipfel in Genf haben wir von Präsident Putin erfahren, dass Präsident Biden seine Mutter liebt und während der Verhandlungen auf sie zu sprechen kam. Wenn es den Staatsoberhäuptern der beiden Länder nur mit Mühe gelingt, das gemeinsame politische Terrain zu sondieren, so suchen sie es im Einfachen und Menschlichen. 

Das neue Russland

Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich, und das Gipfeltreffen mit dem wichtigsten demokratischen Staatsoberhaupt hat diesen Umbau nicht verlangsamt, sondern, im Gegenteil, beschleunigt. Als hätte man sich bei dem Treffen mit Biden darauf vorbereitet, ein neu formatiertes Russland zu präsentieren, mit dem und über das man spricht.

Weder im außen- noch im innenpolitischen Verhalten des Kreml gab es vor dem Gipfel Schritte, die als Versuch gelten können, gefallen zu wollen. Ein Angleichen oder auch nur ein Versprechen sich anzugleichen wurde nicht nur aufgeschoben, sondern abgebogen.

Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich

Während des vergangenen Jahres wurde die Entwicklungphase Russlands abgeschlossen, die man symbolisch als Gorbatschow-Jelzin-Etappe bezeichnen könnte. Die Verfassungsänderungen besiegelten den Bruch. Die Vielzahl an Änderungen markieren nicht so sehr den Beginn einer neuen Etappe, vielmehr verleihen sie der Quantität schon angesammelter Änderungen eine neue Qualität und institutionalisieren das Putinsche Russland.

Putin ist nach Genf gefahren, um dort im Namen dieses neuen Russland zu sprechen, das sich nun nicht mehr entwickelt, indem es Institutionen nach westlichem Vorbild aufbaut oder gar imitiert. Diese Aufgabe ist von der Agenda gestrichen. Russland geht nicht mehr auf einem souveränen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu, jetzt ist sein Ziel selbst souverän. 

Das Neue Russland verzichtet weiterhin nicht auf Marktwirtschaft und prinzipiell offene Grenzen. Aber: Hier muss Glasnost nun nicht zwingend zur westlichen Meinungsfreiheit, Pluralismus nicht zum demokratischen Wettstreit werden und der Markt muss nicht geöffnet werden für Unternehmen aus dem Westen. 

Und genau deshalb hatte der bevorstehende Gipfel auch keinerlei Einfluss auf den Umgang mit der Opposition und den unabhängigen Medien oder auf die Unterstützung Lukaschenkos. Im Gegenteil: Im Vorfeld des Treffens mit Biden hat der Kreml den Ausbau eines autoritäreren Staates nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Die Versuche Bidens (und zuvor ausländischer Journalisten), Putin wegen der Leiden russischer Oppositioneller zu beschämen, prallten auf eine Mauer des Unverständnisses und führten zu Beschuldigungen der Gegenseite. Das Koordinatensystem, in denen solche Anschuldigungen Gewicht haben, existiert für Putin nicht mehr. 

Aus Russlands Handeln vor dem Gipfel folgt, dass die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung kein tragfähiges Modell mehr ist. Moskau will zeigen, dass Zugeständnisse nun gegen Zugeständnisse getauscht werden müssen oder gegen Androhungen von realem Schaden. Also hat Biden eine Liste von 16 Themengebieten entrollt, in denen Cyberattacken Tabu sind: „Drohungen gab es keine, wir haben nur gesagt, wie wir auf eine Verletzung der amerikanischen Souveränität reagieren werden.“ 

Die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung ist kein tragfähiges Modell mehr

Russland hat hier den Vorteil, dass es ein Land mit höherer Schmerzgrenze ist, das zur Durchsetzung seiner Interessen zu größeren Opfern bereit ist – und dessen Führung sich nicht vor Opposition und Presse verantworten muss. Der Westen stützt sich seinerseits auf eine ganze Bandbreite finanzieller und technologischer Überlegenheiten, mit denen er Druck auf Russland ausüben kann. Im Ergebnis wird nun der zweite Versuch gemacht, eine bilaterale Kommission für Cyber-Gefahren einzurichten – den ersten unter Trump hatten Kongress und Staatsapparat blockiert.

Das neue Amerika

Putin brachte das neue Russland mit zum Gipfel, Biden das neue Amerika. Dies ist ein Amerika, das die Beziehungen zu seinen Verbündeten, die Einheit des Westens und das Ansehen der Demokratie wiederherstellt. Bidens Projekt ist dabei offen restaurativ, doch Putins Projekt, zumindest für das System der internationalen Beziehungen, ebenfalls. 

Die Beziehungen zu Russland müssen von nun an offiziell nicht auf Russlands potentieller Ähnlichkeit zum Westen gründen. Sie sind auch nicht abhängig davon, wie der Westen Russlands Zustand bewertet – sondern sie richten sich ausschließlich auf gemeinsame Interessen in den Bereichen, wo sie denn bestehen, gegen einen gemeinsamen Feind, falls sich so einer finden lässt, um Zusammenstöße dort zu vermeiden, wo sie auftreten könnten.

Bidens Projekt ist offen restaurativ, doch Putins Projekt ebenfalls

Darüber hinaus wurde den beiden entscheidenden Supermächten zu den besten Zeiten ihres Zusammenwirkens angeboten, im Interesse der gesamten Menschheit gemeinsam gegen weltumspannendes Übel vorzugehen – angefangen bei Faschismus und Kolonialismus bis hin zur Hilfe für Entwicklungsländer gegen Hunger und Analphabetismus. Die Plattform „gegen den gemeinsamen Feind“ bringt Putin den USA gelegentlich nahe: Er schlägt eine Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terror vor, gegen die Pandemie oder die globale Erwärmung. Die amerikanischen Präsidenten waren einer solchen Zusammenarbeit gegenüber bislang nicht sehr aufgeschlossen, würde doch Russland dadurch, wenn auch nur scheinbar, den eingebüßten Status zurückerlangen.

Biden kann einer solchen Zusammenarbeit jedoch zustimmen. Einen hohen Stellenwert in seiner Vorstellung von bilateraler Zusammenarbeit hat das Klima. Das Pariser Klimaabkommen hat sich stark eingeprägt, weil Putins und Trumps Positionen sich nicht trafen. Und das bedeutet, wenn man sich Moskau bei diesem Thema annähert, geht man nicht auf Putin zu, sondern handelt gegen Trump. 
Auch das klassische Thema der START-III-Verlängerung und die nukleare Rüstungskontrolle wurden von Trump vernachlässigt. Demnach kann Biden auch hier mit Putin zusammenarbeiten, ohne dabei im Schatten eines nachgiebigen Trump zu stehen. 

Schon während des Kalten Krieges lag Biden als Berufspolitiker das Thema der Verhinderung eines nuklearen Konflikts zwischen den beiden prinzipiell verschiedenen Staaten am Herzen. Und auch der Kreml freut sich über die Wiederbelebung der guten alten Tradition der Atomgespräche zwischen den Supermächten. Dazu gaben beide Seiten sogar eine gemeinsame Erklärung ab, obwohl von dem Gipfel gar keine Beschlüsse erwartet worden waren.

Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen

Die beiden Seiten waren so sehr von globalen Themen in Anspruch genommen, dass sie sich allem Anschein nach nicht ausführlich mit lokalen Konflikten beschäftigten. Die Themen Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen wurden zwar angesprochen, allerdings nicht ausreichend für jene, für die diese Themen am wichtigsten sind. Die Journalisten ließen es sich nicht nehmen, Biden dafür Vorwürfe zu machen, genauso wie dafür, dass er es verpasst hatte, Putin offen anzuprangern.

Das Ausbleiben einer gemeinsamen Pressekonferenz war die positive Antwort Bidens auf die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik: „Respektierst Du mich?“. Eine positive öffentliche Antwort oder zumindest das Ausbleiben einer öffentlichen negativen Antwort war die Bedingung für das Treffen sowie für Gespräche mit Moskau generell.

Die neue Welt

Nach dem Wahlsieg Bidens hat vor unseren Augen ein wichtiger Umschwung stattgefunden. Als die Demokraten in das Weiße Haus einzogen, schien es, als ob der Hauptkonflikt der Präsidentschaft Trumps zwischen den USA und China beigelegt und Russland nun isoliert und hart bestraft würde. Einige Monate später sehen wir, dass sich die Rhetorik der neuen Regierung in Bezug auf China verschärft hat.
Biden trifft sich früher mit Putin als mit Xi Jinping. In seinen Aussagen über China tauchte die These von der künstlichen Entstehung des Corona-Virus in einem Labor auf, was bislang fälschlicherweise für ein Trump-Thema gehalten wurde.
China ist nun nicht mehr willkürliche Zielscheibe für Trumps persönliche Wut, sondern objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen. Sie zu lösen, indem man Russland enger an die westliche Welt bindet, ist nicht gelungen. Bleibt also nur, Russland unschädlich zu machen und es dabei so zu lassen, wie es laut seiner Führung sein will, solange das von der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angefochten wird.

China ist nun objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen

Biden hat die theoretische Chance nicht vertan, Russland aus der aktiven Konfrontation herauszuführen und das Beziehungschaos, das auf den Trümmern von Russlands westlichem Weg entstanden ist, langsam zu ersetzen durch den Aufbau einer neuen vertraglichen Ordnung mit einem also doch wieder nicht-westlichen Russland.
Für Putin bietet das die Möglichkeit festzuklopfen, dass mit Russland nicht in der Annahme seiner künftigen westlichen Qualitäten verhandelt wird, sondern mit Russland als das, was es ist, wie schon zu Zeiten der alten Bipolarität. Die auf dieser Grundlage getroffenen Vereinbarungen verlieren auch dann nicht an Gültigkeit, wenn Russlands derzeitiges Staatsoberhaupt länger an der Macht bleiben sollte, als es in früheren, westlicher orientierten Zeiten vorgesehen war.

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