Harte Landung

Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk. 

Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.

Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.

Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.

Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.

Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.

Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.

Warum ausgerechnet Protassewitsch?

Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.

Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.

Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?

„Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.

Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.

Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“

In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.

Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.

Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.

Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.

Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände

Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.

Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.

Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?

Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.

Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.

Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. 

So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“

Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus

Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.

Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.

Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.

Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.

Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?

Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.

Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.

Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.


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