Debattenschau № 83: Das Ende der unabhängigen Medien in Belarus?

Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.  

In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.

Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich

Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.

Nasha Niva: Abhängiger von Russland?

Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.

[bilingbox]Durch die Sperrung von Tut.by ist ein Strich unter die bisherige Existenzweise von Medien in Belarus gezogen worden. Die Zerschlagung des Medien-Flaggschiffs wirft die nationalen Medien um Jahrzehnte zurück und macht den Staat hinsichtlich der Information noch abhängiger von Russland. Es ist nun notwendig, die Gesellschaft für die Unterstützung der Medien zu mobilisieren, die es noch gibt – innerhalb des Landes und im Ausland.~~~Блакаванне Тут.бая таксама падводзіць рысу пад ранейшым этапам існавання СМІ ў Беларусі. Разгром флагмана медый адкідвае нацыянальныя СМІ на дзесяцігоддзі і зробіць дзяржаву яшчэ больш інфармацыйна залежнай ад Расіі. Спатрэбіцца мабілізацыя грамадства на падтрымку тых беларускіх СМІ, якія застаюцца — унутры краіны і за яе межамі. [/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“

Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.

[bilingbox]Kann man in diesem Kampf siegen? Für vernünftige Menschen ist offensichtlich, dass man das nicht kann, wenn solche Methoden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist noch etwas anderes offensichtlich: Jegliche folgerichtige Bewegung in die vorgegebene Richtung „alle zu erwürgen“ kann lediglich dazu führen, dass im Informationsraum von Belarus eine gähnende Leere entsteht. Eine Leere – kein Vakuum. Ein Vakuum kann es in diesem Bereich nicht geben, denn wenn ihnen das gelingt, was sie wollen, dann wird diese Leere unmittelbar gefüllt werden mit einem Produkt von völlig anderem Niveau und völlig anderer Qualität.
In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.~~~Возможно ли победить в этой борьбе? Здравомыслящим людям очевидно, что такими методами – нет. Больше того, очевидно и другое: последовательное движение в заданном направлении «всех придушить» может привести лишь к тому, что в информационном поле Беларуси появятся зияющие пустоты. Пустота – не вакуум, вакуума в этой среде быть не может, поэтому, если у них получится сделать то, что они хотят, пустоту эту, неминуемо, заполнит продукт совершенно другого уровня и качества.
В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“

In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.

[bilingbox]Für all diese IT-Unternehmen sind sehr hohe Zuwendungen vorgesehen. Ganz ehrlich – meiner Ansicht nach ist das eine Apotheose der Unverschämtheit und Amoral. Einerseits als Flaggschiff im Informationskrieg gegen den Staat und gegen den Präsidenten persönlich aufzutreten. Gegen Lukaschenko. Denn sie bekämpfen ihn ja nicht nur als politischen Führer, sondern auch als Menschen, beleidigen und diskreditieren ihn mannigfach. Und andererseits sind sie sich gleichzeitig nicht zu fein, Zuwendungen anzunehmen, die ihnen vom belarussischen Staat gewährt werden, und Erlasse dieses Staatsmannes, des Präsidenten der Republik Belarus zu nutzen. Das ist meiner Ansicht nach die Apotheose der Doppelmoral, der Unverschämtheit, der Amoral, die ich rein menschlich nicht verurteilen würde, doch meine Bewertung fällt negativ aus.~~~Вот для этих всех IT-компаний предусмотрены очень серьезные льготы. И, на мой взгляд, если честно, это апофеоз наглости и аморальности. С одной стороны, выступать флагманом информационной войны против государства и против Президента лично. Против Лукашенко. Ведь они в том числе борются именно с ним не только как с политическим лидером, но как с человеком, всячески его оскорбляя и дискредитируя. Но при этом не стесняются пользоваться льготами, предоставленными белорусским государством и указами этого государственного деятеля — Президента Республики Беларусь. Вот это, на мой взгляд, апофеоз двойных стандартов, наглости, аморальности, который чисто по-человечески я не берусь осуждать, но моя оценка этого негативная.[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

Facebook/Lavon Volski: „Je suis Tut.by“

Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.

[bilingbox]Ich verstehe, dass das Niveau gehalten werden muss. Das Level darf nicht gesenkt werden. Immer wieder muss deutlich gemacht werden, wer hier der Herr im Hause ist. Alle müssen in Angst gehalten werden. Das ist eine einfache Bauernregel: Angst haben – das bedeutet: jemanden zu achten. Nur wächst mit jedem neuen Druck nicht die Angst, sondern der Hass. Und der erfasst mit jedem Tag, mit jedem neuen „kriminellen“ Fall mehr und mehr Leute. Er sammelt sich immer weiter an, er staut sich auf in diesem geschlossenen Raum. Der Zeiger schlägt schon längst aus dem roten Bereich, und sie kippen immer mehr Zündstoff hinein, immer mehr … Je suis Tut.by~~~Я разумею, што ўзровень трэба трымаць. Не зьніжаць градус. Раз за разам дэманстраваць, хто тут гаспадар. Трымаць усіх у страху. Такі просты мужыцкі разьлік: баяцца — значыць паважаюць. Толькі ад кожнага новага ціску расьце ня боязь, а нянавісьць. І яна з кожным днём, з кожнымі новымі “крымінальнымі” справамі ахапляе ўсё болей і болей людзей. І яна ўсё назапашваецца, усё расьце ў гэтай замкнёнай прасторы. Стрэлка даўно на чырвонай зоне, а яны ўсё падкідаюць паліва, болей і болей… Je suis TUT.by[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“

Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.

[bilingbox]Wir alle sind heute Zeugen des vorsätzlichen Mordes an dem Medium und unabhängigen Portal Tut.by. 20 Jahre hat es den Belarussen einwandfrei seriöse Nachrichten vermittelt und war ein Paradebeispiel für die unabhängige Presse. Viele haben befürchtet, dass es so kommen wird. Doch es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn man die konsequente Zerstörung der Freiheit mit eigenen Augen sieht. Die Zusammenrottung von Leuten, die in Belarus die Regierungsmacht fest in ihren Händen halten – das ist ein wahres Besatzerregime: Sie töten die Presse, töten Parteien und Gruppierungen, sie töten uns – auf der Straße und in den Gefängnissen.~~~Сегодня мы все – свидетели умышленного убийства медиа и независимого портала TUT.by. Он 20 лет исправно сообщал беларусам честные новости и был образцом независимой прессы. Многие опасались, что так и произойдет, но это совсем другое чувство, когда смотришь на последовательное уничтожение свободы собственными глазами. Сборище людей, которые удерживают власть в Беларуси, – это и есть настоящий оккупационный режим: они убивают СМИ, убивают партии и сообщества, убивают нас – на улицах и в тюрьмах.[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“

Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.

[bilingbox]Wir sind schon daran gewöhnt: Jeden Tag gibt es einen neuen Tiefpunkt. Und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock …
Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.~~~Мы уже привыкли к тому, что каждый день – новое дно. Но все равно каждый раз шок.
Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?

In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.

[bilingbox]Die Idylle endete am 9. August 2020, als das „herzliche Einverständnis“ zwischen der Regierung und den Kräften, die Tut.by verkörpern, innerhalb von einer Sekunde zerstört war. 
Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter.
Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.~~~Идиллия закончилась после 9 августа 2020 года, когда «сердечное согласие» между властью и теми силами, которые олицетворяет tut.by, было в момент разрушено.
Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений.
С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda

Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.

[bilingbox]Was Tut.by angeht, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was das Portal ausmacht: Es stellt eine gewisse Barriere zu russischen Inhalten in den Köpfen der Belarussen dar. 
Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda. ~~~К TUT.BY может быть различное отношение, но что свойственно этому порталу — это определенный барьер на пути российского контента в головы беларусов.
Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки[/bilingbox]

erschienen am 18.05.2021, Original

dekoder-Redaktion

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