„Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

Ein halbes Jahrhundert lang lag ein Erinnerungsschatten über den Schicksalen der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion: In der deutschen Erinnerungskultur war dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit kaum sichtbar. Auch in der Sowjetunion herrschte Schweigen über die tragischen Schicksale von fast drei Millionen Menschen.

In Deutschland konnten erst nach der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die individuellen Entschädigungszahlungen an die zivilen Zwangsarbeiter am 30. Mai 2001 beginnen. Heute, 76 Jahre nach Kriegsende, sind einige von über 30.000 Zwangsarbeitslagern Gedenkorte. In den vergangenen Jahren kamen in Deutschland zahlreiche Publikationen heraus, auch die Zivilgesellschaft beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema. 

Auf Afisha zeichnet Memorial-Mitarbeiterin Ewelina Rudenko die Aufarbeitung in Russland nach – und schildert, wie diese eigentlich „aus Versehen“ begann.

dekoder zeigt Bilder und erzählt die Geschichten dahinter – in Zusammenarbeit mit Batenka. Memorial-Mitarbeiterin Irina Schtscherbakowa ordnet die Bilder ein und erklärt, warum viele Zwangsarbeiter über Jahrzehnte ihre Biografie verheimlichen mussten. 

Iwan Sch., 16 Jahre alt. Weihnachtsfeier. Selb, 1942 / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 212046

Ewelina Rudenko, Koordinatorin des Memorial-Projekts Digitalisierung des „Ostarbeiter“-Archivs

1990 erschien in der Zeitung Nedelja ein kurzer Artikel über „Ostarbeiter“. Darin hieß es, dass die Organisation Memorial die Entschädigungszahlungen an die Menschen übernehmen würde, die während des Großen Vaterländischen Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Der Artikel wurde in unzähligen Lokalzeitungen nachgedruckt. Ein paar Monate später hatte Memorial etwa 320.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und ihren Verwandten erhalten. In der Hoffnung auf eine gerechte Wiedergutmachung und aus dem Wunsch heraus, ihre Geschichte zu teilen, schrieben die Menschen ausführliche Briefe, schickten Fotos und Dokumente von ihrer Zeit in Deutschland. So entstand die Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Zwangsarbeit, die Memorial International angelegt hat, durch einen glücklichen Zufall.

Als Geschichtsstudentin hat mich allein schon die Möglichkeit fasziniert, Fotos aus der Kriegszeit in Deutschland in den Händen zu halten. Aber noch viel beeindruckender waren die Erzählungen der „Ostarbeiter“ über den Krieg.

Denn das war nicht die übliche Stimme der Sieger (die uns aufgedrängt wird und die mit jedem Jahr lauter erklingt), sondern der Blick der Opfer, die man gezwungen hatte, sich selbst für Verräter und nicht für Opfer zu halten.

Das war nicht die übliche Stimme der Sieger

Dank der „Ostarbeiter“ habe ich zum ersten Mal ganz klar verstanden und gespürt, dass der Krieg keine unendliche Reihe von Schlachten und Siegen ist, sondern eine einzige riesige Tragödie, die Millionen Menschenleben zerrüttet und zerstört hat.

Nach der Lektüre all dieser Briefe und Erinnerungen kam mir die erschreckende Erkenntnis, wer die „Ostarbeiter“ eigentlich waren: Es waren überwiegend junge Frauen zwischen 17 und 18 Jahren, meistens aus Dörfern. Frauen, die möglicherweise diese Dörfer noch nie verlassen hatten, keine Großstädte kannten, noch nie Zug gefahren waren, wohl kaum je fotografiert worden sind. Und diesen jungen Frauen steht nun bevor, ins Hinterland des Feindes verschleppt zu werden und die Bomben zu produzieren, die auf ihre Heimatdörfer niedergehen würden. Sie würden sich inmitten der Faschisten wiederfinden, in der Fremde, ohne jegliche Sprachkenntnisse. Ihr erstes Foto wird also das Bild für den Ausweis (im Orig. dt. – Anm. d. Übers.) mit einer Kennziffer auf der Brust. Obendrein werden sie in Deutschland keinerlei Information darüber erhalten, was an der Front passiert, ob ihre Angehörigen noch leben, und vor allem, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Das scheint mir einzigartig in der Geschichte zu sein, und ich warte nur darauf, dass ein Psychologe oder Volkskundler sich dieses Themas annimmt und ein Buch darüber schreibt.

„Die Fotografie wurde von der Haushälterin des Fabrikleiters in der Silvesternacht 1942/43 gemacht.“
Maria S., mit 19 verschleppt. Arbeitete in einer Fabrik in Rummelsburg / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr.  201032

Fast alle Mädchen haben selbsthergestelltes Rouge auf den Wangen. Im Archiv von Memorial International gibt es Dutzende von Geschichten über die Herstellung von Kosmetika aus improvisierten Materialien. 

Alle jungen Frauen sind festlich gekleidet, einige von ihnen tragen Schmuck. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihre winzigen Gehälter auszugeben. Kleidung war teuer (obwohl es Ausnahmen gab – einige „Ostarbeiterinnen“ erwähnten den Kauf von Pullovern, die „den Juden abgenommen“ worden waren). So war billiger Schmuck die einzige Mode, die den Mädchen im Teenageralter zur Verfügung stand. Kleider wurden für gestellte Fotos ausgeliehen. 

In der Beschreibung zum Foto erwähnt Maria, dass die Haushälterin ihnen Kuchen zur Neujahrsfeier geschenkt hatte. Die durchschnittliche Verpflegung der Zwangsarbeiter bestand aus Steckrübensuppe zweimal am Tag und 200 Gramm Brot mit verschiedenen Beimischungen. Den meisten dokumentierten Erinnerungen ist gemeinsam, dass die Menschen ständig Hunger hatten und Kartoffelschalen aus Küchenabfällen gestohlen haben. (Irina Schtscherbakowa)

Nikolaj Kirejew

1942 mit 16 Jahren aus der Oblast Orlow verschleppt. Arbeitete in Rüstungsfabriken in Berlin. Kam später, nach einem misslungenen Fluchtversuch, ins Konzentrationslager.

„[…] [An Wochentagen] mussten wir um fünf aufstehen, dann gabs Kawa, wie die Polen sagten. Kawa heißt Kaffee. Die Schüssel hast du immer bei dir – das war die wichtigste Ausrüstung, für den Fall, dass dir jemand wo was einschenkt. […] Und einen Laib Brot. […] Ein gewöhnliches, wenn du es anfasst, ist es, als wäre es aus Sägespänen, die zusammengepresst wurden. Nichts als Späne. Du isst es, und es scheint zu schmecken. Das war morgens. Sozusagen unser Frühstück. Ein Brot für fünf Leute […]. So groß wie ein Borodinski-Brot, oder sogar noch kleiner […]. Mittag gab es aus Kübeln. Sie nannten es Kohlrabi. Das gab es ständig. Kohlrabi ist sowas wie sehr fester Kohl. […] Zum Abendessen gab es gar nichts. Es gab nur zwei Arten von Mahlzeiten am Tag. Nein, manchmal gab es [zum Abendessen] Mehlsuppe. Also einfach nur aus Mehl. Sonst nichts, kein Fett. 

Manchmal, an großen Feiertagen, gab es etwas … An Hitlers Geburtstag, am 20. April, war ich [im Spandauer Zwangsarbeitslager] in der Rauchstraße. Zur Feier des Tages gab man uns ein Stückchen Margarine, so groß wie eine Streichholzschachtel. Danach gab es … – davon hatten sie offenbar zu viele – Frösche. Die Frösche gingen sehr gut. Frösche gab es oft an Feiertagen. Die Schenkel und den Rumpf mit irgendeiner Marinade. Das war ein hervorragendes Essen. Ich habe immer versucht, einen zweiten und dritten Nachschlag zu bekommen, weil ich sie sehr gern aß. Das Hungergefühl verschwand nie. […] Dann gab es noch so rote Stiele. Manchmal so dick wie ein Arm. Was das für Stiele waren, weiß ich nicht. Aber die waren süß, mit solchen langen Fäden. Das war ein hervorragendes Essen. Aber vielleicht erschien mir das damals auch nur so […].“ (Quelle)

Wassili G., mit 16 verschleppt (auf dem Bild mit blauem Kugelschreiber gekennzeichnet). Neujahrsfeier. Ort unbekannt, Jahr nicht angegeben / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 158013

Auf diesem gestellten Foto sind fast alle sitzenden Männer dem Fotografen zugewandt, die Menschen im Vordergrund schauen ins Objektiv, einer von ihnen isst. Während der Feiertage wurden in Kantinen oder anderen Gemeinschaftsräumen fast überall geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt – auch für Propagandafotos. 

Abgekratzte Stellen sind charakteristisch für viele Fotos von ehemaligen „Ostarbeitern“. In der Regel wurden einzelne Motive nach dem Krieg entfernt, um die kompromittierenden Fotos nicht im Familienarchiv aufzubewahren. Dies betraf meistens Nazi-Symbole oder Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Nicht unüblich war es auch, Hitler-Portraits auf Fotos zu entfernen (in diesem Fall oben links). (Irina Schtscherbakowa)

Galina Schalankowa 

1942 mit 17 aus der Oblast Sumskaja (Ukraine) verschleppt. Arbeitete im Lager an einer Chemiefabrik bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt). 
„In diesem Lager wurden alle, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sofort geschlagen und so weiter. […] Als ich mir also die zwei Finger abgehackt hatte, um nicht an der Maschine arbeiten zu müssen, wurde ich ins Labor versetzt, als Putzfrau. Da haben sie [die anderen Arbeiterinnen] gesagt: ‚Galja, bring doch einen Viertelliter Alkohol mit, bitte doch deine Chefin. Und dann feiern wir Neujahr.‘ Wenn sie mich drum bitten, kann ich doch nicht nein sagen, es sind ja meine Freundinnen. Ich hatte einen Mantel, […] im Rockschoß [vom Mantel habe] ich den Viertelliter versteckt.

Und dann – nicht alle werden am Kontrollpunkt durchgelassen, [es heißt]: du, du und du, raus zur Kontrolle. Auch ich war eine von denen [die überprüft werden sollten]. […] Eine Frau hat mich durchsucht. […] Ich sagte: ‚Schnaps.‘ Und sie: ‚Hm, ein Viertelliter. Wozu hast du den genommen?‘ ‚Um Neujahr zu feiern‘, sage ich. ‚Die Chefin hat ihn mir gegeben, ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe sie gefragt. Frau Kulta, ich sehe sie noch heute vor mir. Ich hatte zu ihr gesagt: ‚Gib uns einen Viertelliter Alkohol, dann können wir es wenigstens feiern, das neue Jahr.‘

Also wurden wir zur Seite genommen. Da waren noch ein paar junge Männer, die mit irgendwas erwischt worden waren. Das wars, Hände hoch. Man brachte uns zur Gestapo. Und damit wir nicht mit leeren Händen liefen, bekamen alle irgendetwas zum Tragen, einen Stuhl, eine Kiste, einen Baumstamm. Damit auch alle sehen, dass du etwas angestellt hast, und damit du dich gleichzeitig nützlich machst. Wir kamen […] in den Verhörraum, dort wurde alles aufgeschrieben, wer, was, warum. Und dann ging es weiter zur Gestapo, dorthin, in die Baracke, in diese Baracke kamen wir […] unter die Pritschen. Wir waren drei junge Frauen. Die Männer kamen natürlich woanders hin. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Wir waren froh, dass sie uns nicht mit den Schlagstöcken geprügelt haben. […] Das wars. […] Sie können sich vorstellen, was für einen Hunger wir hatten.“ (Quelle)

Maria S., mit 23 Jahren verschleppt. Neujahr. Erlangen, Jahreszahl fehlt / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 1256

Dieses Foto zeigt, wie Propagandabilder aufgenommen wurden: Der Fotograf verwendet zwei Scheinwerfer, die auf das Zentrum der Aufnahme gerichtet sind. Dort steht eine gut gekleidete junge Frau mit einem „OST“-Kennzeichen. Sie lächelt in die Kamera und nimmt einen Teller Suppe aus den Händen einer ebenso gut gekleideten Köchin entgegen. Viele „Ostarbeiter“ berichten darüber, dass sie gezwungen worden sind, für Fotos zu lächeln. Die Gesichter von Personen, die nicht von Anleuchtgeräten angestrahlt werden, haben einen auffallend anderen Ausdruck als die Gesichter derjenigen, die im Propagandabild sind. (Irina Schtscherbakowa)

Irina Schtscherbakowa, Koordinatorin der Bildungsprojekte von Memorial, Historikerin, Mitverfasserin des Buchs Für immer gezeichnet

In Deutschland gab es viele verschiedene Lager: Arbeitslager, Straflager für Kriegsgefangene und Konzentrationslager (die härtesten von allen). Die Stellung der „Ostarbeiter“ war ein klein wenig besser als jene der KZ-Häftlinge. Allerdings hing alles davon ab, wo sie lebten und arbeiteten: War es ein großes Lager, das zu einer Rüstungsfabrik gehörte, brauchten sie eine Genehmigung, um in die Stadt gehen zu dürfen. War es ein Haushalt, den sie besorgten, durften sie ruhig rausgehen, um Aufgaben zu erledigen (beispielsweise die Kinder von der Schule abzuholen). Aber sie durften nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, sondern nur bestimmte Strecken damit fahren. Bis 1944 mussten sie das Kennzeichen „OST“ tragen: Wurden sie ohne angetroffen, wurden sie bestraft.

Im Großen und Ganzen behandelte man sie wie unbezahlte Arbeitskräfte. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit bekamen, war so mickrig, dass sie höchstens eine Flasche Limonade dafür hätten kaufen können. 

Natürlich gab es auch Deutsche, die Mitleid mit den „Ostarbeitern“ hatten und ihnen heimlich Stullen in der Fabrik daließen. Doch ein engerer Kontakt war durch die deutschen Gesetze strengstens untersagt. Freundschaftliche und erst recht Liebesbeziehungen wurden verfolgt. Bestraft wurden vor allem die „Ostarbeiter“, aber manchmal trafen die Strafen auch Deutsche – insbesondere bei Liebesbeziehungen, denn diese galten als ein Verstoß gegen die Rassengesetze.

Nach dem Kriegsende sollten die „Ostarbeiter“ gemäß dem Abkommen von Jalta durch die Alliierten an die sowjetische Regierung ausgeliefert werden. Aber schon bald unterbreiteten die Amerikaner den „Ostarbeitern“ das Angebot, nicht in die sowjetische Besatzungszone zu gehen. Viele nahmen das Angebot an und blieben in den Lagern, die nun der amerikanischen Besatzungsmacht unterstanden. Diejenigen, die aber zurückkehrten, mussten eine Filtration durchlaufen. Wenn ihnen außer der Verschleppung nach Deutschland nichts vorgeworfen wurde, bekamen sie eine Bescheinigung. Damit konnten sie per Militärtransport in die Heimat zurückkehren. Einige – nicht sehr viele – wurden zu Zwangsarbeit und in die Arbeitsarmee geschickt. Mehrere Jahre mussten sie am Wiederaufbau von Zechen und Elektrizitätswerken mitarbeiten. 

Der Vermerk, für die Deutschen gearbeitet zu haben, war ein Makel in den persönlichen Akten der Menschen. Ehemalige „Ostarbeiter“ durften nicht in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) leben, keine höhere Bildungsanstalt besuchen, nicht dem Komsomol oder der Partei beitreten.
Ein kleiner Prozentsatz der „Ostarbeiter“ wurde verhaftet und noch zwei Jahre nach der Rückkehr repressiert. Nach Stalins Tod besserte sich die Lage ein wenig, trotzdem fühlten sich die ehemaligen „Ostarbeiter“ als Menschen zweiter Klasse. Ihnen wurde zwar nicht vorgeworfen, das Vaterland verraten zu haben – andernfalls wären mehr als zwei Millionen zurückgekehrte Menschen in sowjetischen Lagern gelandet. Doch im Alltag hing immerzu der Verdacht über ihnen, sie hätten für den Feind gearbeitet.

Da sich die „Ostarbeiter“ ausgestoßen und stigmatisiert fühlten, verheimlichten viele nach Möglichkeit ihre Biografie. Über sie und ihr Schicksal wurde nicht geschrieben. Dies änderte sich erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals begann die deutsche Regierung mit den Entschädigungsleistungen. 

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