Lancelot im Schlund des Drachen

Entmutigung – das ist das Gefühl, das Andrej Swjaginzew vor allem verspürt, wenn er an die Situation des inhaftierten Alexej Nawalny denkt. Bei einem Publikumsgespräch in Nowosibirsk wurde der renommierte Regisseur (Leviathan, Die Rückkehr) nach Nawalny gefragt, der in Haft in Hungerstreik getreten ist, um eine angemessene ärztliche Behandlung zu erwirken. Sein Team hatte vergangene Woche über kritische Kaliumwerte des Oppositionellen informiert, ein Herzstillstand drohe.

Dem Aufruf, für Nawalnys Leben auf die Straße zu gehen, waren am gestrigen Mittwoch, 21. April, schließlich russlandweit mehrere tausend Menschen gefolgt. Die NGO OWD-Info berichtet von über 1700 Festnahmen, mehr als 800 davon allein in Sankt Petersburg.

Mit dem in Nowosibirsk artikulierten Gefühl, dass der Staat abwesend sei, sich immer weiter von den Menschen entferne, ist Swjaginzew nicht alleine – auch die Politologin Tatjana Stanowaja konstatiert dies in einer Analyse von Putins Rede zur Lage der Nation. 

dekoder bringt Swjaginzews Statement auf Deutsch, das Taiga.info und Meduza verschriftlicht haben.

„Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt.“ – Regisseur Andrej Swjaginzew / Foto © Alexander Miridonow/KommersantFür mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt. Man kann sich auf nichts verlassen, nur auf irgendeine Art von Gemeinsamkeit, auf Kameraderie, auf ein Hören, eine Schulter.

Mich entmutigt die aktuelle Situation enorm, weil mir völlig unklar ist, welches Instrumentarium nötig ist, um dieser Walze etwas entgegenzusetzen. Sie walzt im wahrsten Sinne des Wortes einen Menschen zu Tode, der jetzt für alle in den Flammen verbrennt. Lancelot im Schlund des Drachen. Das ist ein bezaubernder Anblick, bewundernswert, denn an Mut fehlt es diesem Mann nicht. Doch er hat diesen Weg natürlich vollkommen bewusst gewählt, er brennt wie eine Fackel, das ist klar.

Was können nun die anderen tun? Zuschauer bleiben in diesem Zweikampf, den man nicht mal Zweikampf nennen kann, oder irgendwie daran teilnehmen? Es ist völlig unklar.

Noch etwas hat mich ergriffen und entzückt: Ein Mensch, der [in Solidarität mit Nawalny] in den Hungerstreik getreten ist. Er heißt Nikolaj Formosow und ist ein ehemaliger Professor der Higher School of Economics und der MGU. Man muss handeln, denn reden ist völlig sinnlos. An den Menschen [den Präsidenten Russlands Wladimir Putin] wendet sich schon die ganze Welt. Alle bedeutenden Persönlichkeiten bitten um eine ganz einfache Sache: Gewährt dem Mann medizinische Hilfe. Doch er [Putin] ignoriert die weltweite Stimme, obwohl das Volk es schon herausschreit.
 
Ein merkwürdiges Gefühl entsteht. Ein Gefühl der Abwesenheit des Staates, ein Gefühl der Abwesenheit dessen, der geschworen hat, Garant für das Leben und die Würde seiner Bürger zu sein. In diesem Zustand ist es sehr schwer eine Handlung zu finden, ein Wort.

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