„Sie werden sitzen und Sie werden verurteilt!“

Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist am 18. Januar 2021 zu 30 Tagen U-Haft verurteilt worden. Der Prozess gegen den Kreml-Kritiker fand in einer Moskauer Polizeistation statt. Seine Anwältin hatte erst wenige Minuten vor Beginn erfahren, dass überhaupt eine Verhandlung stattfindet. Beobachter und Anhänger Nawalnys sprechen von einem beispiellosen Vorgang. Zudem könnte Nawalnys Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher demnächst in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden. Ihm drohen dreieinhalb Jahre Haft, abzüglich bereits verbüßter zehn Monate Hausarrest. Darüber soll am 2. Februar entschieden werden.

2014 waren Nawalny und sein Bruder Oleg wegen Betrugs des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Oleg Nawalny musste die Strafe absitzen, Alexej bekam Bewährung. Schon den Prozess damals hielten viele Beobachter für politisch motiviert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig“. Das Präsidium des Obersten Gerichts in Russland bestätigte es im April 2018 trotzdem. 

Beim Prozess in der Moskauer Polizeistation wurde Nawalny gestern nun vorgeworfen, gegen die Bewährungsauflagen verstoßen und sich nicht bei den Behörden gemeldet zu haben: und zwar „mindestens sechs Mal“ noch vor seiner Ausreise nach Deutschland. Außerdem sei der „Angeklagte Nawalny auch in der Zeit vom 17.08.2020 bis zum 29.12.2020“ nicht zur Registrierung bei den russischen Behörden erschienen. Nach dem Nowitschok-Anschlag auf ihn am 20. August 2020 war Nawalny eine Zeit lang in der Berliner Charité in Behandlung gewesen. Erst am Sonntag war er aus Deutschland nach Moskau zurückgekehrt. Noch am Flughafen wurde er festgenommen.

Die Umstände des Prozesses in der Polizeistation gestern sorgten für großen Unmut in liberalen Kreisen. Nawalnys Stab rief zu landesweiten Demonstrationen am kommenden Samstag auf. Den bislang ausbleibenden Massenprotest in der russischen Gesellschaft erklärten Kommentatoren in unabhängigen Medien unter anderem damit, dass viele der offiziellen Propaganda Glauben schenkten, wonach Nawalny wahlweise ein Niemand beziehungsweise Agent des Westen sei. Zudem hat die Duma erst Ende 2020 eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet, die auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter einschränken.

Die unabhängige Plattform Mediazona, mitbegründet von den Pussy Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina, begleitet und dokumentiert viele Gerichtsprozesse in Russland. Sie hat eine Tonbandaufzeichnung der Verhandlung erhalten. Das gekürzte Transkript, das sie schließlich veröffentlichte, überträgt dekoder ins Deutsche:
 

Der Prozess gegen Alexej Nawalny fand in der Moskauer Polizeistation in Chimki statt / Foto © Dawid Frenkel/Mediazona

Die Richterin Jelena Morosowa betritt den Saal und bittet Nawalny, sich vorzustellen; der macht mit müder Stimme seine persönlichen Angaben. Morosowa verliest seine Rechte und fragt, ob er Fragen dazu hat.

Nawalny (beginnt mit müder Stimme, echauffiert sich dann aber mehr und mehr): Ich … Verstehen Sie, ich weiß, dass Sie da irgendwelche Worte gesagt haben – ja, die habe ich wohl verstanden. Aber, verstehen Sie, bewerten Sie doch mal bitte selber die Situation. Ich habe nicht ohne Grund den Prozess mit den Worten begonnen, dass Sie wohl verrückt geworden sind. Sie sagen, dass ich bestimmte Rechte hätte. Sie haben erklärt, dies sei ein öffentlicher Prozess, doch Sie lassen nicht einen einzigen Journalisten herein, der …

Morosowa: Das Gericht hat gefragt, ob Sie Ihre Rechte verstanden haben, die Ihnen vom Gericht erklärt wurden.

Nawalny (lauter): Ne-i-n! Gestatten Sie mir zu antworten. Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft! Nur weil Sie eine Robe tragen, ist das hier noch lange kein Gericht! Das Gericht sollte 100 Meter von hier entfernt im Gericht von Chimki tagen.

Sie haben mich hierher gezerrt, Sie haben niemanden darüber informiert, Sie haben hier niemanden hereingelassen! Sie nennen das hier eine öffentliche Verhandlung, doch Sie lassen keine Journalisten herein. Sie sagen, Publikum habe freien Zutritt, lassen aber niemanden rein; das Gebäude ist bewacht. Das ist kein Gericht!

Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!

Vorhin haben Sie mir gesagt, vor einer halben Stunde: „Ich gebe Ihnen Zeit für ein vertrauliches Gespräch mit Ihrem Anwalt.“ Die ganze Zeit über war ich in Begleitung von zwei Polizeibeamten mit Scheiß-Bodycams! Verstehen Sie?! Das ist absurd! Sie sagen das eine, und sofort geschieht das Gegenteil!

Morosowa: Ich bitte Sie, während der Verhandlung nicht zu schreien. Ich bitte Sie, die Prozessordnung einzuhalten.

Nawalny: Was soll ich denn sonst tun?! So, wie Sie diese Ordnung verletzen, verletzt sie sonst niemand! (Senkt die Stimme.) Gut. Nur unterbrechen Sie mich bitte nicht, hören Sie mich bitte an.

Morosowa: Sie verstoßen gerade gegen die Prozessordnung.

Nawalny: Sie tun das. Euer Ehren, so wie Sie dagegen verstoßen … (Fängt wieder an zu schreien.) Entlassen Sie mich bitte aus dem Verhandlungssaal!

Morosowa (teilnahmslos, leicht genervt): Ins Verhandlungsprotokoll wird aufgenommen, dass im Verhandlungssaal gegen die Prozessordnung verstoßen wird … durch Nawalny.

Die Richterin bittet die Zuhörer, Mobiltelefone mit Videokameras auszuschalten. Sie wiederholt nochmals die einzuhaltende Prozessordnung: Dem Gericht ist im Stehen zu antworten, die Ansprache ist „Hohes Gericht oder „Euer Ehren, Zwischenrufe sind nicht gestattet.

Nawalny: Lassen Sie uns bitte die Prozessordnung einhalten. Eine Gerichtsverhandlung ist nicht möglich ohne Ladung der Anwälte – in den Unterlagen fehlt eine solche. Eine Verhandlung ist unmöglich ohne Kenntnis der Unterlagen und ohne vertrauliches Gespräch mit einem Anwalt – Sie sagten mir, Sie würden mir 30 Minuten gewähren. Was ist das bitte für ein vertrauliches Gespräch, wenn ich mit den Anwälten und zwei Polizeibeamten mit Bodycams zusammensitze? Erscheint Ihnen das nicht merkwürdig? Mir schon. Welche Achtung vor dem Gericht möchten Sie von mir? Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen. Sie sind doch eine junge Frau. Ihr Putin stirbt schneller, als …

Morosowa (lauter): Das Gericht ruft Sie zur Ordnung …

Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen

Nawalny: Deswegen werden Sie sitzen, aber in einem normalen Gericht, und man wird Sie verurteilen.

Morosowa: Ein weiterer Ordnungsruf mit Eintrag in das Verhandlungsprotokoll.

Nawalny: Tragen Sie ein, was Sie wollen, mir ist Ihr Protokoll vollkommen schnurz.

Morosowa: Setzen Sie sich, bitte. Sie haben die Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Stellen von Anträgen.

Nawalny: Ich stelle einen Antrag auf Einlass von Journalisten, die sich zum jetzigen Zeitpunkt hier befinden, mindestens zwei. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, sehen sie: Dort stehen Journalisten, viele. Doch unsere werte Staatsanwaltschaft hat gesagt, dass wir nicht alle hier hereinlassen können. Ich stelle den Antrag, ich fordere, dass Sie die Journalisten der Medien Doshd und Mediazona zulassen. Sie stehen dort und können Ihnen nicht persönlich ihre Anträge übergeben, denn es wird ihnen nicht erlaubt. Aber wenn wir einen transparenten öffentlichen Prozess haben, dann fordere ich eine dreiminütige Pause, in der wir mindesten zwei Vertreter der Medien hereinrufen.

Die Verteidiger Olga Michailowa und Wadim Kobsew unterstützen den Antrag Nawalnys. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa sagt, dass der Antrag auf Anwesenheit von Vertretern der Medien schon gestellt und geprüft wurde. Die Richterin lehnt das sofort ab, da sich „im Gerichtssaal akkreditierte Medien befinden, die für eine Videoaufzeichnung sorgen“.

Der Anwalt Kobsew nimmt auf den Antrag Nawalnys Bezug und sagt, dass er gezwungen war, sich mit seinem Mandanten in Anwesenheit von Polizisten mit Bodycams zu besprechen. Er bittet um Zeit, um mit Nawalny unter vier Augen zu reden. [Staatsanwältin] Koloskowa insistiert, dass „genug Zeit gegeben worden sei“. Die Richterin lehnt den Antrag der Verteidigung ab.

Kobsew: Wir haben die Unterlagen nicht in vollem Umfang erhalten. Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war, in diesem Format einer Sitzung außerhalb des Gerichts.

Michailowa: Ich möchte das unterstreichen und darauf hinweisen, dass die Unterlagen überhaupt keine Angaben darüber enthalten, dass eine Verhandlung anberaumt worden ist.

Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war

Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück und die Richterin weist den Einwand der Verteidigung zurück.

Kobsew: Gestern wurde im Lauf der Festnahme bei einer Durchsuchung Nawalnys der Auslandsreisepass beschlagnahmt. Eine Kopie des Passes findet sich in der Akte. Im Festnahmeprotokoll ist der Pass unter den Gegenständen, die beschlagnahmt wurden, nicht aufgeführt. Wir bitten darum, den Pass ausfindig zu machen und ihn Nawalny oder uns, seinen Verteidigern, auszuhändigen.

Nawalny: Das ist eine komische Situation. Gestern wurde mir mein Pass an der Grenze abgenommen. Man hat mich hierher gebracht und alle Sachen protokolliert: Schnürsenkel, Gürtel und so weiter. Aber der Pass wird im Festnahmeprotokoll nicht unter den beschlagnahmten Gegenständen aufgelistet. Das heißt, sie haben ihn gestohlen, verloren oder was auch immer mit ihm gemacht. Er sollte entweder Teil der Prozessunterlagen oder im Festnahmeprotokoll aufgeführt sein. Ich möchte, dass das festgehalten wird. Vielleicht wurde er aus Versehen nicht aufgenommen, einfach vergessen in dem Getümmel. Das ist ein wichtiges Dokument, in der Tat mein einziges Dokument, das mich ausweist in diesem Gericht.

Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Inneren sind dagegen, die Richterin weist den Antrag unverzüglich ab, „da diese Frage den Rahmen der Prüfung der vorliegenden Unterlagen sprengt“.

Anwältin Michailowa bittet darum, Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch in den Saal zu lassen, doch laut Vertreterin der Behörden des Inneren ist „die Höchstzahl der für diesen Saal zugelassenen Personen bereits erreicht“. Die Richterin lehnt unverzüglich ab unter Berufung auf „Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygieneregeln“. Nawalny bittet, Ilja Pachomow und Ruslan Schaweddinow vom FBK ins Gericht zu lassen. Die Richterin lehnt unverzüglich ab.

Nawalny: Da das Gericht offensichtlich die Seite der Anklage eingenommen hat, da mir mein Grundrecht auf Verteidigung verweigert wurde, da Medien und Publikum nicht zum Prozess zugelassen wurden und sich hier nur Personen befinden, die auf unklare Weise hierher geraten sind und von der Staatsanwältin, der Richterin oder von Polizeibeamten hierher gebracht wurden, da es kein Dokument gibt, in dem ein Gerichtsprozess festgelegt wurde – das kann nicht einfach aus dem Nichts auftauchen, man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen und dann hätte es irgendwer hierher verlegen müssen – in Folge dessen lege ich Einspruch gegen die Anberaumung dieser Sitzung ein.

Man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen

Anwalt Kobsew meint, dass Richterin Morosowa befangen sei und eine Sitzung außerhalb des Gerichts in einer Polizeistation eine „beispiellose Maßnahme, wie ich sie noch nie in Russland gesehen habe“. Die Anwältin Michailowa ergänzt, dass Morosowa über keine gesetzlichen Vollmachten zur Verhaftung eines auf Bewährung Verurteilten verfüge, und „diese Gerichtsverhandlung gar nicht stattfinden dürfte“. Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück. Die Richterin zieht sich für zehn Minuten ins Beratungszimmer zurück. Danach lehnt sie Nawalnys Einspruch ab. Die Verhandlung wird fortgesetzt.

Das Wort ergreift Naumowa, Vertreterin der Polizeiverwaltung von Chimki. 

Naumowa: Sehr geehrtes Gericht, am 03.03.2015 wurde der Verurteilte Nawalny in die Zweigstelle №11 der Strafvollzugsverwaltung (FSIN) der Stadt Moskau bestellt. Am 10.03.2015 fand mit Nawalny ein Aufklärungsgespräch statt, es wurden die Bedingungen der Bewährungsstrafe erklärt und die ihm auferlegten Pflichten. Die Verpflichtungserklärung wurde unterzeichnet …

Naumowa erzählt mehrere Minuten die gesamte komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen Nawalny und dem FSIN. Nach dem Urteil im Fall Yves Rocher wurde der Politiker dazu verpflichtet, sich zweimal im Monat – je am ersten und dritten Montag – in einer Zweigstelle des FSIN zu melden. 

Im Jahr 2020 sei Nawalny „systematisch“ nicht zur Meldung erschienen, erzählt Naumowa: Zweimal im Januar 2020, einmal im Februar, zweimal im März, dann im Juli und im August.

Nach der Vergiftung am 20. August 2020 wurde Nawalny zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen, worüber man beim FSIN „aus den Medien“ erfahren habe. Die Behörde habe Angaben über Nawalny beim Omsker Krankenhaus erfragt und am 16. Oktober „per Einschreiben an die Meldeadresse“ über seine Meldepflicht bei der Strafvollzugsbehörde (FSIN) informiert. 

Dann legt Naumowa eine Auskunft der Berliner Charité vom 11. November vor, wonach Nawalny dort vom 22. August bis zum 23. September behandelt wurde. Nach seiner Entlassung befand sich Nawalny in ambulanter und physiotherapeutischer Behandlung. Nach der schweren Vergiftung brauchte er eine lange Rehabilitation, doch, so merkt Naumowa an, sei in den Dokumenten der Charité keine genaue Angabe über die benötigte Zeit bis zur Genesung gemacht worden.   

Der Auftritt der Vertreterin der Polizei von Chimki wird übertönt durch die „Lasst ihn frei!-Rufe vor den Fenstern der Polizeistation.

Naumowa: … zur Feststellung des faktischen Aufenthaltsorts des Verurteilten Nawalny hat die Strafvollzugsbehörde unter der Meldeadresse des Verurteilten nachgeforscht. Am 16.09.2020 und am 16.12.2020 haben Mitarbeiter im Rahmen der Besuche bei der Meldeadresse festgestellt, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Überprüfungen nicht an der Meldeadresse anwesend war. Daher ist der Strafvollzugsbehörde der faktische Aufenthaltsort des Verurteilten Nawalny seit dem 24.09.2020 unbekannt. Mit der Anordnung der regionalen Strafvollzugsbehörde Moskaus vom 29.12.2020 wurde der Verurteilte Nawalny zur Fahndung ausgeschrieben.

Am 17.01.2021 [bei der Landung Nawalnys in Moskau – dek] wurde der Aufenthaltsort des Verurteilten festgestellt. Mitarbeiter der Moskauer FSIN-Behörde und Mitarbeiter der Polizei des Stadtkreises Chimki haben Nawalny für eine Frist von bis zu 48 Stunden festgenommen.

Naumowa beantragt beim Gericht, Nawalny für eine Frist von 30 Tagen zu inhaftieren. Die Richterin Morosowa zählt die im aktuellen Fall vorliegenden Unterlagen auf, während von draußen Rufe hereindringen. 

Die Gerichtsverhandlung wird immer wieder übertönt durch „Lasst ihn frei“-Rufe von draußen / Foto © Dawid Frenkel/MediazonaMorosowa: Bitte, Herr Alexej Anatoljewitsch Nawalny, wie stehen sie zu den vorliegenden Anschuldigungen?

Nawalny: Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten? Oder ein Gericht dazu verpflichten, dass dieses entscheiden möge, dass sie verheiratet werden? Was hat die Polizeidirektorin von Chimki damit zu tun?

Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten?

Es wurde ein Prozess angesetzt, es gibt die Strafvollzugsbehörde FSIN. Der FSIN glaubt, dass ich irgendwo nicht erschienen sei, der FSIN setzt eine Gerichtsverhandlung an. Ich bin ein auf Bewährung Verurteilter. In Ihren Unterlagen ist die Fahndungsausschreibung, da steht schwarz auf weiß, in Großbuchstaben, extra für die Staatsanwälte und Richter aus Chimki: „Eine verfahrenssichernde Maßnahme gibt es nicht.“ Und dann kommt die Polizeichefin von Chimki und sagt: „Kommt, wir inhaftieren ihn!“ Wie soll man das denn überhaupt verstehen?

Der Verfahrensweg ist wie folgt, so steht es schwarz auf weiß im Gesetz: „Der FSIN kann beantragen, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umzuwandeln.“ Und sie haben es beantragt. Es wurde ein Gerichtstermin festgelegt. Wenn die Polizei glaubt, dass ich festgenommen werden muss, dann kann sie mich für 48 Stunden festnehmen.

Wie kann sich (lacht) eine Polizeichefin von Chimki überhaupt in dieses System einmischen und meine Festnahme beantragen? Das ist doch lachhaft.  

Anwältin Michailowa sagt, dass die Behördenleiterin sich auf drei Artikel des Strafgesetzbuches bezieht: Und zwar auf Artikel 46 über die Nichteinhaltung der Auflagen für gemeinnützige Arbeit, Artikel 397 über die Inhaftierung von Verurteilten, die sich Geldstrafen, Arbeiten oder Freiheitsbeschränkungen entzogen haben, und Artikel 399 [Strafvollstreckungsordnung – dek].  Keiner dieser Artikel sehe Freiheitsstrafen von 30 Tagen für Verurteilte während der Bewährungszeit vor.

Michailowa: Außerdem möchte ich das Gericht auf Folgendes aufmerksam machen. Erstens, Nawalny ist nicht untergetaucht. Er hat der Strafvollzugsbehörde mitgeteilt, dass er in Deutschland in ärztlicher Behandlung ist, ein ärztliches Attest der Charité wurde vorgelegt, und dieses befindet sich, soweit ich weiß, in den Unterlagen …

Kobsew: Es ist nicht in den Unterlagen. Wir verweisen darauf in unserer Stellungnahme.

Michailowa: Leider ist bei dieser Gerichtssitzung kein Vertreter des Strafvollzugsdienstes FSIN anwesend, der uns aufklären könnte. Ich denke selbstverständlich, dass das nicht richtig ist – man hätte auch einen Vertreter des Strafvollzugsdienstes zu dieser Gerichtsverhandlung laden müssen.
Der FSIN wurde darüber informiert, wo Nawalny sich aufhält, dass er sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in ambulanter Behandlung befindet und von Ärzten der Charité beobachtet wird. Diese Dokumente sind einsehbar in den Unterlagen, die dem Simonowski-Gericht vorgelegt wurden, wo eine Anhörung für den 29. Januar anberaumt wurde [diese wurde inzwischen auf den 2. Februar verschoben – dek]. Da die Frage der Umwandlung der Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe bei dieser Gerichtssitzung am 29. Januar verhandelt wird, entspricht die jetzige Verhandlung wiederum nicht dem Gesetz.

Wir haben eine Bescheinigung, die wir ganz kürzlich von der Charité erhalten haben. Da die Gerichtsverhandlung so notfallmäßig anberaumt wurde, hatten wir leider keine Zeit, diese Bescheinigung ins Russische übersetzen zu lassen. Sie ist auf den 15. Januar datiert, ich bitte, sie der Akte beizufügen. Daraus geht hervor, dass Nawalny in der Charité behandelt wurde, dann unterzog er sich einer Reha, und diese endete am 15. Januar.

Michailowa führt an, dass Nawalny auf Russlands Ersuchen hin im Rahmen einer Übereinkunft für Rechtshilfe in Deutschland vernommen wurde. In dem Ersuchen wurde Nawalnys Adresse in Deutschland angegeben, was bedeutet, dass die russischen Behörden wussten, wo sie ihn finden konnten. Am 20. Januar 2021 ist für den Politiker ein Gerichtstermin angesetzt, im Fall einer Verleumdungsklage; die Gerichtsvorladung dafür wurde an Nawalnys deutsche Adresse geschickt. An diese Adresse schickte auch das Bezirksgericht Simonowski der Stadt Moskau seine Vorladung an Nawalny.

Als Michailowa fertig ist, listet der Richter die Dokumente und Anträge auf und fragt, ob alle mit der Zulassung der Bescheinigung in deutscher Sprache einverstanden sind. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft erhebt Einspruch, da „Gerichtsverfahren in der Russischen Föderation auf Russisch geführt werden“, der Richter lehnt [die Zulassung] ab.

Kobsew: Ich unterstütze die Position von Alexej Anatoljewitsch und meiner Kollegin. Ich bin auch deshalb der Meinung, dass dem Antrag der Polizeichefin von Chimki nicht stattzugeben ist, weil Nawalny – wie gesagt – vom Zeitpunkt seiner Vergiftung bis zu seiner gestrigen Rückkehr nicht zur Inspektion erschienen ist. Und aus hinreichendem Grund. Damit gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, seine Bewährungs- in eine Haftstrafe umzuwandeln. Insofern als zudem alle staatlichen Stellen sehr wohl über Nawalnys Wohnsitz in Deutschland Bescheid wussten … Eine Person zur Fahndung auszuschreiben ist nur möglich, wenn der Aufenthaltsort der Person nicht bekannt ist. In diesem Fall war der Aufenthaltsort bekannt. Wenn der Aufenthaltsort festgestellt ist, es aber nicht möglich ist, die Person zu vernehmen, ist dies kein Grund, sie zur Fahndung auszuschreiben. Genau aus diesem Grund hat Nawalny gezielt Eingaben sowohl beim Gericht als auch bei der Strafvollzugsbehörde gemacht, wo er seine Adresse in Berlin angab. Deshalb wurde er unrechtmäßig auf die Fahndungsliste gesetzt.

Kobsew führt die Erklärung des Obersten Gerichtshofs an, dass es möglich ist, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe zu verwandeln, wenn Verstöße gegen Auflagen vor Ablauf der Bewährungszeit begangen wurden oder wenn sich herausstellt, dass der Verurteilte untergetaucht ist. Nawalny sei jedoch aus einem triftigen Grund nicht zur Strafvollzugsbehörde erschienen und habe keine Verstöße begangen.
Nach Kobsews Rede steht die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa auf und ersucht, dem Antrag auf Verlängerung von Nawalnys Haftzeit stattzugeben.
Die Richterin zieht sich unter Rufen von der Straße in den Beratungsraum zurück. Sie verspricht, in 15 Minuten zurück zu sein, kommt aber erst eine Stunde später wieder und verliest ihre Entscheidung: Nawalnys U-Haft wird auf 30 Tage verlängert.

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